Lockvogel. Theresa Prammer
dem ganzen Trubel waren zwei Stunden vergangen, seit sie vor seinem Büro gewartet hatte. Sie war nicht aus dem Grund geblieben, weil sie wusste, dass diese blonde Frau Sybille Steiner war. Auch nicht, um zu lauschen – obwohl es quasi unmöglich war, nicht zu lauschen, denn über der Tür fehlte das Glas der Oberlichte. Zuerst hatte sie sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt und Musik am Handy laufen lassen. Doch dann hatte schließlich die Neugier gesiegt. Das da drin war schließlich Alexander Steiners Ehefrau, die wissen wollte, ob ihr Mann ihr treu war. Also hatte Toni dem Gespräch gelauscht – bis Sybille Steiner nach einem Knall die Tür aufgerissen hatte. Toni hatte nicht erkennen können, ob sie fliehen oder Hilfe holen wollte.
Jetzt sah Toni aus dem schmutzigen Fenster hinter dem Schreibtisch, draußen setzte bereits die Abenddämmerung ein.
Ihr war klar, dass es durch das Auftauchen einer so prominenten Klientin ein ungünstiger Zeitpunkt war, um Brehm zu überzeugen. Aber versuchen musste sie es trotzdem, nur darum war sie geblieben. Weil sie bei ihm, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, so etwas wie echtes Mitgefühl gesehen hatte. Sie brauchte seine Hilfe. Wie Prinzessin Lea: Edgar Brehm, Sie sind meine letzte Hoffnung.
„Herr Brehm? Hallo?“ Sie stupste ihn leicht an der Schulter. „Sind Sie wach? Ich hab Ihnen was zu essen bestellt.“
Er blinzelte sie schlaftrunken an, griff sich an den Kopf und keuchte.
„Was ist … bin ich eingenickt?“
„Na ja, so kann man es auch nennen. Der Notarzt hat gesagt, Sie sollen was essen.“
„Welcher Notarzt?“
„Erinnern Sie sich nicht?“
Er schüttelte den Kopf. Was auch immer der Arzt ihm gespritzt hatte, sie hätte es auch gern.
„Es ging Ihnen nicht so gut. Sie waren ein bisschen verwirrt. Wir haben die Rettung gerufen, aber Sie haben sich geweigert, ins Krankenhaus gebracht zu werden.“
„Wer ist wir?“
„Frau Steiner und ich. Sie ist gegangen, bevor die Rettung da war.“
Brehms Augen starrten ins Leere, dann nickte er leicht, als würden die Erinnerungen zurückkehren. Sie bemerkte seinen Blick zum Schreibtisch.
„Das Kuvert hat sie mitgenommen und auch dieses blaue Heft.“
Der Anflug von Panik in seinem Gesicht war unübersehbar.
„Sie hat aber ihre Telefonnummer dagelassen“, beruhigte sie ihn. „Ich hab sie auf den Schreibtisch gelegt.“
Er wollte aufstehen, doch sie schüttelte den Kopf.
„Der Arzt hat gesagt, Ihr Kreislauf hat schlappgemacht. Sie sind dehydriert und brauchen was zu essen. Und er hat gefragt, ob Sie momentan viel Stress haben?“
Er ließ die Frage unbeantwortet, worauf sie ihm eine Kartonbox mit Essstäbchen und eine Flasche Mineralwasser auf den Beistelltisch stellte.
„Hier. Für Sie.“
Er versuchte sich aufzusetzen. Toni wollte ihm helfen, aber er schüttelte den Kopf.
„Was machen Sie überhaupt noch hier?“
Sie verschränkte die Arme. Das war also seine erste Reaktion?
„Oh, danke, dass Sie geblieben sind, Frau Lorenz“, sagte sie schnippisch. „Und mir auch noch was zu essen bestellt haben. Das wäre aber nicht nötig gewesen.“
Seine Augenbrauen schoben sich zusammen, er stieß ein leises Grummeln aus. Sein gemurmeltes „Danke“, als er die Box öffnete und am Essen schnupperte, war kaum hörbar. War er verärgert, dass sie hier war? Oder hatte sie es hier mit gekränktem Stolz zu tun? Beim ersten Bissen verzog er den Mund.
„Was ist das? Gebratener Radiergummi?“
„Ja, genau“, sagte sie lauter als nötig. „War im Sonderangebot.“
Es wirkte, als müsse er sich ein Lächeln verkneifen.
Sie setzte sich auf den Thron, überschlug die Beine, zum ersten Mal saß sie höher als er und sah auf ihn hinunter. „Das ist Tofu mit Gemüse. Vegan.“
Sein Blick war so entsetzt, als hätte sie gesagt, es wäre gepresstes Zyankali. Sie konnte sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen.
„Haben Sie noch was von den Chips?“
„Jetzt essen Sie das, Ihr Körper braucht Eiweiß und Kohlenhydrate.“
Sie lehnte sich zurück und sah ihm dabei zu, wie er das nächste Stück Tofu zwischen die Stäbchen klemmte und skeptisch betrachtete.
„Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie mir geholfen haben. Aber wieso sind Sie noch da?“
„Nach dem Essen.“
Widerwillig schob er den nächsten Bissen in den Mund. Es war nichts zu hören, nur sein Kauen. Anscheinend schmeckte es ihm doch. Der Kater miaute. Brehm gab ein Stück Tofu auf die Serviette und legte sie auf den Boden. Der Kater leckte darüber und hob den Kopf mit einem Blick, als könnte er nicht fassen, was er da vorgesetzt bekam. Brehm hustete, aber sie erkannte sein unterdrücktes Lachen. Wenigstens spielte er es nicht als Triumph aus.
Ob er verheiratet war? Kinder hatte? Oder war er geschieden? Er trug keinen Ehering – was natürlich nichts zu bedeuten hatte. Sonst stand kein persönlicher Gegenstand herum, kein Familienfoto, noch nicht mal irgendeine Postkarte an der Wand. Da fiel ihr der Name wieder ein.
„Wollen Sie Kurt anrufen?“
Er zuckte zusammen, ein Stückchen roter Paprika fiel ihm aus dem Mund.
„Kurt?“
„Sie haben ein paar Mal seinen Namen genannt.“ Dass ihr dieser Name auf ein paar Kuverts auf dem Schreibtisch untergekommen war, verschwieg sie ihm. Kurt. Kurt Eisner.
Er legte die Stäbchen weg, griff nach der Flasche.
„Nein.“
„Oder sonst jemanden?“
„Nein.“
Seine Stimme klang merkwürdig gequetscht, fast heiser. Hoffentlich klappte er nicht gleich wieder zusammen. Sie hatte seine Entlassungspapiere aus dem Krankenhaus gefunden, als sie den Schreibtisch nach Geld für das Essen durchsucht hatte. Er war erst gestern nach Hause geschickt worden. Anscheinend ein Auffahrunfall, er hatte so eine Art Kollaps und die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Und daran heftete eine erstaunliche Liste mit Medikamenten, die er einnehmen musste.
Brehm lehnte sich zurück, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und atmete mit einem tiefen Seufzer aus. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Sie reichte ihm die Verpackung mit dem Nitrolingual-Spray. Der war zur Blutdrucksenkung und gegen Herzschmerzen, sie hatte es gegoogelt.
„Hier, der lag unter Ihrem Schreibtisch. Scheint runtergefallen zu sein.“ Sein erleichterter Gesichtsausdruck änderte sich sofort, als sie fragte: „Arbeiten Sie ganz alleine?“
„Danke, dass Sie geblieben sind. Was bin ich Ihnen für das Essen schuldig?“
Sie schluckte den Ärger über den barschen Tonfall seiner Frage runter.
„Nichts. Ich habe auf Ihrem Schreibtisch zwanzig Euro gefunden.“
Er seufzte und sah Richtung Tür, eine stille Aufforderung, dass sie jetzt gehen sollte.
Toni beugte sich vor, sah ihm fest in die Augen. Hier war eindeutig ein „Zebra im Raum“, wie ihre Großmutter das immer nannte, weil ihr der sprichwörtliche Elefant zu abgedroschen war. In der letzten Stunde hatte Toni so einiges über Edgar Brehms Detektei herausgefunden.
„Herr Brehm, Sie werden das jetzt nicht hören wollen, aber ich muss es fragen. Was ist passiert?“
Er ruckte den Kopf und verzog den Mund, als hätte er Schmerzen.
„Wie bitte?“