Lockvogel. Theresa Prammer
Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie ihn vielleicht doch noch mit der Geschichte ihres potenziellen Verfolgers ködern konnte. Doch vermutlich würde er bloß rasch herausfinden, dass sie sich das einbildete. Und damit hatte sie auch nichts gewonnen. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf, ging zur Tür und riss sie schwungvoll auf. Ein hagerer kleiner Mann mit Brille stand davor, die Hand erhoben, als hätte er gerade anklopfen wollen. Im Gegensatz zu Toni erschrak er nicht, sondern rückte sich nur die Brille zurecht.
„Herr Brehm?“, sah er sie fragend an.
Toni hörte den Detektiv hinter sich ächzen und etwas murmeln, das nicht besonders freundlich klang. Der kleine Mann schob sich an ihr vorbei, er schien nicht das erste Mal hier zu sein.
„Da Sie meine Anrufe in der letzten Woche ignoriert haben“, er stützte die Aktentasche auf seinem Knie ab, „sehe ich mich genötigt, Sie persönlich aufzusuchen. Das wird natürlich in Rechnung gestellt. Mein Mandant war sehr über Ihre Forderung an Schadensbeteiligung amüsiert.“ Er lachte, als wäre er das auch. „Die Angestellten seiner Sicherheitsfirma sind nicht für Observationen ausgebildet. Entweder, Sie ziehen Ihre Forderung zurück, oder er wird Klage gegen Sie einreichen. Und wie ich den Gerichtsunterlagen entnehmen konnte, ist er nicht der Einzige, der Sie vor Gericht sehen möchte.“
Es hörte sich an wie eine Drohung. Toni verließ eilig das Büro, sie hatte schon genug mitbekommen.
Wahrscheinlich war ihr Vorschlag tatsächlich eine Schnapsidee. Wenn seine letzten Einsätze solche Reinfälle waren, wie sollte dann ausgerechnet er Felix finden? Sie hatte es ja selbst versucht, stundenlang im Internet gesurft, herumtelefoniert – alles ohne Ergebnis.
Und was jetzt? Ein anderer Detektiv? Blieb die Frage, wie sie den bezahlen sollte. Bezahlen. Das war das Stichwort. Sie hatte vergessen, Brehm das Restgeld vom Lieferservice zu geben.
Als sie wieder die Treppe zu seinem Büro hochstieg, kam ihr der Anwalt entgegen. Er sah sichtlich erfreut aus.
Die Tür stand offen, Brehm saß zusammengesunken auf der Chaiselongue, der Kater zu seinen Füßen. Toni machte sich durch ein Türklopfen bemerkbar, er sah hoch.
„Das gehört noch Ihnen“, erklärte sie und legte das Restgeld auf den Tisch. „Okay, dann auf Wiedersehen.“
„Sie haben gesagt, Beate Schmitz ist Ihre Lehrerin?“, hielt er sie auf.
„Ja.“
„Was für eine Lehrerin?“
„Rollengestaltung und Improvisation. Außerdem ist die Schmitz die Schulleiterin.“
Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. „Schulleiterin?“, wiederholte er.
„In der Schauspielabteilung. Ich gehe aufs Konservatorium.“
Noch. Aber das würde sich auch ändern, wenn sie das Problem mit Felix und dem verschwundenen Geld nicht lösen konnte.
„Sie sind Schauspielerin?“
Sie wollte ihn korrigieren, dass sie lediglich den ersten Jahrgang besuchte und bestenfalls eine angehende Schauspielerin war. Doch Brehm sah sie plötzlich so erfreut an, dass sie nur nickte. Womöglich hatte er ein Faible für Künstler, und ihr war alles recht, wenn er ihr nur helfen würde.
Er stand mit einem Ächzen auf, der Kater huschte an ihr vorbei aus der Tür.
„Haben Sie ein Auto, Frau Lorenz?“
„Nein.“ Sollte sie Botendienste für ihn erledigen? „Aber einen Führerschein. Und ich habe ein Fahrrad.“
„Fahrrad … damit wird es nicht gehen. Aber ich lasse mir was einfallen.“ Er wirkte fast aufgeregt. „Ich nehme Ihr Angebot an. Wir treffen uns morgen hier. Um zehn Uhr. Halten Sie sich den Tag frei. Haben Sie ein Foto von Herrn Meier dabei?“
Die Müdigkeit schien von ihm abgefallen zu sein.
Doch Toni zögerte. Seine Gesamtsituation wirkte nicht gerade vielversprechend. Andererseits war er die einzige Option, die sie hatte. Und die war besser als nichts.
Sie reichte ihm drei Bilder, die sie gestern im Drogeriemarkt ausgedruckt hatte. An seinem Blick erkannte sie, dass ihm nicht entging, wie gut Felix aussah.
„Noch etwas: Ziehen Sie morgen bitte etwas Unauffälliges an. Am besten ganz klassische Jeans, schlichtes T-Shirt oder Bluse und eine dunkle Jacke.“
Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz und holte sein Handy hervor. Toni wollte noch nachfragen, was sie zu tun hätte, ob er auch gleich mit der Suche nach Felix beginnen würde. Doch er setzte die Brille auf und tippte eine Telefonnummer in sein Handy.
„Wir sehen uns morgen“, sagte er und deutete zur Tür.
5
Verdammt. War sie paranoid? Oder wurde sie wirklich verfolgt?
Kaum war Toni aus Brehms Detektei getreten, hatte sie wieder dieses Gefühl. Als würde sie beobachtet. Sie drehte sich um, sah hoch zu den Fenstern. Vielleicht war es ja Brehm? Nein, das war nicht möglich, sein Büro befand sich doch im Hinterhaus. Sollte sie zu ihm zurück und es ihm sagen? Und was dann? Wenn Brehm – so wie Lena – auch niemanden entdecken konnte?
Toni sah sich um. Die Straße war menschenleer. Und wenn nun irgendwer in einem Auto saß und sie beobachtete? Dann würde er oder sie ihr nachfahren. Also entschied sie, einen Umweg zur U-Bahn zu nehmen, und versuchte, so unauffällig wie möglich bei jeder Gelegenheit hinter sich zu blicken.
Aber niemand von den Leuten hinter ihr schien sie zu beachten. Und da war auch kein Auto, das sie verfolgte.
Trotzdem. Das Gefühl blieb.
Als Tonis Handy läutete, zuckte sie zusammen.
„Hey, ist alles okay?“, fragte Lena, nachdem sie geantwortet hatte. „Du klingst gestresst. Ist was vorgefallen in der Detektei?“
„Nein, ich meine, ja … ich … sorry, es ist nur gerade wieder komisch.“
„Verfolgungswahn?“ Lena lachte, aber als Toni nicht einstimmte, wurde sie ernst. „Weißt du was? Ich komm zu dir nach Hause und bring Pizza, okay?“
Toni nahm das Angebot dankbar an.
In der U-Bahn nach Hause googelte sie, was Lena so salopp ausgesprochen hatte:
Verfolgungswahn kann als Erscheinungsbild einer affektiven Störung im Rahmen einer Psychose auftreten. Auslöser können psychische Erkrankungen sein. Aber auch traumatische Erlebnisse, bei denen Betroffene das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht erleben, wurden bei neuesten Studien als nicht pathologische Ursache festgestellt. Besonders häufiges Auftreten scheint es bei Zuständen der Überforderung …
Toni musste nicht weiterlesen. Sie ließ ihr Handy sinken. Hilflosigkeit, Ohnmachtsgefühl, Überforderung. Besser konnte Doktor Google ihre derzeitige Situation gar nicht beschreiben.
„Du sollst sicher mit dem Steiner vögeln.“
Lena strich sich schwungvoll eine ihrer roten Locken aus der Stirn und zuckte mit den Augenbrauen.
Toni verschluckte sich am Rotwein. Nach dem ersten Glas war sie bedeutend ruhiger geworden. Vielleicht war es aber auch Lena, die ihr versichert hatte, dass sie nicht am Durchdrehen war, sondern einfach nur wieder die Kontrolle über die Situation bekommen musste, in die sie Felix manövriert hatte. Wäre diese Ansage von jemand anderem gekommen, hätte Toni daran gezweifelt. Aber bisher hatte sich ihr Verdacht, verfolgt zu werden, tatsächlich noch kein einziges Mal bestätigt.
Hustend winkte sie ab, doch Lena grinste nur.
Das war typisch für Lena: Sie verband liebend gerne jedes Thema sofort mit Sex. Dabei war sie erstaunlich zurückhaltend, wenn ein Verehrer mehr von ihr wollte als nur ihre geistige Zuneigung. Als gäbe es zwischen Lena und Sex eine Art Hassliebe.
„Natürlich sollst du das.“ Lena nickte. „Wenn seine Frau glaubt, dass er fremdgeht, dann bist du der