Lockvogel. Theresa Prammer

Lockvogel - Theresa Prammer


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goldenen Feuerzeug an. Nach dem ersten Zug blies sie den Rauch aus, als würde sie etwas vor sich wegpusten wollen.

      „Was meinen Sie damit, er hat sich als Kellner ausgegeben?“, fragte Edgar nach.

      „Er war kein Angestellter der Cateringfirma.“ Sie hielt mit der Zigarette vor dem Mund inne. „Die Polizei ist noch immer damit beschäftigt, seine Identität festzustellen. Und … ich befürchte, also … ich möchte, dass Sie klären, ob er etwas damit zu tun hat.“

      Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab, griff wieder in ihre Tasche und nahm ein großes orangefarbenes Kuvert heraus. Es zitterte in ihrer Hand.

      „Ich möchte vorbereitet sein. Falls es so ist. Das kam vor zwei Wochen. Jemand hat es in unseren Briefkasten gesteckt. Keine Anschrift, kein Absender. Seit dem Unfall ist viel Polizei bei uns im Haus. Wir werden befragt und … Ich muss wissen, wer das geschrieben hat, bevor es die Polizei rausfindet. Ob er deshalb auf der Party war. Verstehen Sie?“

      Sie zog hastig an der Zigarette.

      „Sie meinen, dass dieser Todesfall kein Unfall war?“

      „Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich meine, diese Nebelleiste ist höchstens zehn Zentimeter lang und wiegt vielleicht zwei, drei Kilo. Aber …“ Sie seufzte. „Ja, ich habe auch darüber nachgedacht. Er wurde damit direkt am Kopf getroffen. Als er vor dem Pool stand. Was ich sagen will … ich kann es nicht ausschließen. Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist. Doch wenn man so erfolgreich ist, wie mein Mann, hat man auch viele Feinde, und ich muss wissen …“

      Ihre Stimme versagte. Sie nahm noch einen tiefen Zug, dann drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und reichte Edgar zitternd das Heft. Als er danach griff, ließ sie es nicht los.

      „Kann ich mich auf Ihre absolute Diskretion verlassen? Die zwölftausend Euro sind eine Anzahlung.“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Kuvert. „Sie bekommen noch einmal die gleiche Summe, wenn alles erledigt ist. Ich möchte nicht, dass Sie erpressbar sind. Verstehen wir uns?“

      Was war das? Sie wirkte plötzlich sehr klar, fast herrisch. Auch die Hand zitterte nicht mehr. Also doch nur Show? Aber war das bei insgesamt vierundzwanzigtausend Euro und auch noch schwarz auf die Hand nicht völlig egal? Damit würde er zumindest die Hälfte seiner Probleme in den Griff bekommen.

      Es rumpelte wieder in ihm, er musste husten. Reiß dich zusammen, forderte er sich auf.

      „Gnädigste“, sagte er in seinem charmantesten Tonfall. „Ihr Auftrag ist bei mir in sicheren Händen. Wenn ich erpressbar wäre, würden Sie sich nicht in meinem Büro befinden. Denn dann würde die Detektei nicht so einen guten Ruf genießen.“

      „Gut.“ Sie nickte. Ihre Schultern senkten sich und ihre Augen glänzten, so als würden sich Tränen darin sammeln. Doch sie hatte sich erstaunlich schnell wieder gefasst. „Ich muss nämlich wissen, ob mein Mann mir treu ist.“

      Edgar zog ein blaues Schulheft aus dem Kuvert. Es sah abgegriffen aus. Er setzte die Lesebrille auf. Die erste Seite war vollgeschrieben. Perfekte Buchstaben in dunkelblauer Tinte. War das eine Schrift, die sichergehen wollte, dass jedes Wort lesbar war? An manchen Stellen war sie leicht verwischt. Und waren das hier Tropfen, Tränen vielleicht?

      Wieder das Rumpeln in Edgars Brust, gefolgt von einem Stich. Das war ein schlechtes Zeichen. – „Sollten Sie sich unwohl fühlen, kontaktieren Sie sofort einen Arzt, Herr Brehm“, hatte man ihm eingebläut.

      Er schluckte. Nein, er konnte Chanel auf keinen Fall wegschicken. Dafür brauchte er den Inhalt des Kuverts zu dringend.

      „Lesen Sie und sagen Sie mir bitte, was Sie davon halten.“

      4. April 2015

      Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Liebes Tagebuch, ich schreibe das hier … warum? Weil ich es einfach schreiben muss? Weil ich irgendwo loswerden muss, was passiert ist? Damit ich vielleicht endlich wieder schlafen kann? Nicht durchdrehe? Eine Lösung finde? Einen Job?

      Das letzte Mal, als ich Tagebuch geschrieben habe, war ich zwölf. Zwölf! Und so unsagbar in den Johannes aus der Parallelklasse verliebt, weil ich – als Einzige meiner Freundinnen – fand, er sah aus wie Keanu Reeves. Er wollte nichts von mir wissen, also habe ich das Tagebuch seitenweise mit meinen Träumereien gefüllt, ihm Liebesbriefe geschrieben. Bis ich mitbekommen habe, wie er sich über einen dicken Jungen aus der ersten Klasse lustig macht. Da war meine Liebe nicht nur dahin, ich bin wütend zu ihm gegangen und hab ihm gesagt, dass er ein Idiot ist und sein Aussehen ihm nicht das Recht gibt, über irgendwen Witze zu machen. Ich glaube, er hat kein Wort verstanden, was ich damals gesagt habe. Aber ich habe mich gefühlt wie Jeanne d’Arc, und meine Mutter war stolz auf mich, als ich es ihr erzählt habe. Ich wünschte, ich könnte das jetzt wieder tun – eine Jeanne d’Arc sein. Aber das kann ich nicht. Dass ich diese Zeilen gerade schreibe, ist der Beweis dafür.

      Edgar sah über den Brillenrand hoch. Was rauschte denn da?

      „Schon fertig?“, fragte Chanel.

      „Noch nicht.“

      Kam das aus den Rohren? Dieses Geräusch hatte er noch nie gehört. Es wurde lauter.

      „Woher kommt das?“

      Es war mehr eine Frage an sich selbst als an sie.

      „Was?“

      „Dieses Rauschen.“

      „Welches Rauschen? Ich höre nichts.“

      Die Erkenntnis, dass es nicht aus seinem Büro, sondern aus seinem Körper kam, sickerte so langsam in seinen Kopf, als wäre sie aus Schlamm. Nicht schon wieder. Nicht jetzt.

      Er klopfte sich aufs Ohr. Unverändert.

      „Tinnitus?“, fragte sie.

      „Wahrscheinlich. Und Sie wissen nicht, wer das geschrieben hat? Gar keine Ahnung?“, fragte Edgar rasch.

      „Nicht die geringste. Glauben Sie mir, sonst wäre ich nicht hier.“ Ihr Lachen klang gequält. „Alles, was ich weiß, ist, dass es laut dem Datum vor vier Jahren verfasst wurde und vor zwei Wochen in unserem Briefkasten steckte.“

      Edgar musste sich konzentrieren. Wenn er das hier gelesen hatte, konnte er mit ihr unter irgendeinem Vorwand einen neuen Termin vereinbaren.

      Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder dort. In dem Raum mit den heruntergezogenen Jalousien. Und ich höre das rhythmische Trommeln des Regens auf dem Metalldach. Es klang hübsch, fast wie eine Melodie. Und ich sehe dich. Wie du an dem Metalltisch in der Mitte des Raums lehnst, der mich im ersten Moment an einen Operationssaal erinnert hat. Sonst gab es nur unsere vier Stühle. Die drei anderen und ich saßen im Halbkreis, als wäre das eine Therapiegruppe.

      Du warst gar nicht mein Typ. Ende vierzig, wirre Locken, Dreitagebart, weißes, gestärktes Hemd, das um den Bauch leicht spannte. Die offenen Knöpfe zeigten ein wenig dunkles Brusthaar. Am Handgelenk blitzte deine goldene Uhr, eine Rolex? Deine schwarze Anzughose hatte diesen leichten Schimmer teurer Stoffe. Dein Sakko lag auf dem Tisch, als wäre es ein Patient, der auf den Anästhesisten wartet. Herr Doktor, ich hätte auch gerne einen Zug vom Lachgas. Waren es der Alkohol, die High-Society-Drogen oder schlichtweg das Leben, das mehr Falten in deinem Gesicht hinterlassen hatte, als zu deinem Alter passten? Aber spielt das bei Männern wie dir überhaupt eine Rolle? Ich weiß noch, wie ich dachte, du kommst mir so bekannt vor. Nicht von den Bildern aus der Presse. Nein, ich musste dich schon mal irgendwo getroffen haben. Du hast uns nacheinander angesehen. Von oben bis unten wanderten deine Augen, als würdest du etwas an uns suchen. Warst du vielleicht einmal Gast im Hotel? Nein, das wäre mir im Gedächtnis geblieben, weil jemand wie du sich nur in diese schäbige Absteige verirrt haben konnte. Solche Männer passten in die Lobby des Hilton oder des Hotel Sacher. Das dachte ich, und dann, ich weiß nicht mehr weswegen, bemerkte ich deine Schuhe.

      Diese wunderbar ausgelatschten, schmutzigen, bereits in die Jahre gekommenen graublauen Nike-Sneaker. Keine Ahnung, wieso so banale Schuhe


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