Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
In diesem Augenblick wurde das Tête-à-tête des Professors mit seiner jungen Freundin unterbrochen. Die Frau Professorin kam eilig durch das Auditorium dahergeschritten und riß rasch die Tür auf.
»Bracht,« rief sie mit einer hohen, eifernden Stimme, »wo steckst du? – Um Gottes willen, da sitzt der Mann und schwatzt und kümmert sich um die Welt nicht – und draußen auf der Gasse laufen bereits alle Leute zusammen.«
»Die Leute werden schwerlich bemerken, daß ich unter ihnen fehle!« entgegnete Bracht, indem er sein gelehrtes Haupt ruhig seiner zürnenden Gattin zuwandte.
»Nun seh' Sie, Traud,« eiferte die aufgeregte Dame weiter, »das sind so seine Redensarten, womit er einen zur Verzweiflung bringt – es ist nicht auszuhalten mit dem Mann! – Ei, so steh' doch auf und geh' hinaus und geh' aufs Rathaus und höre zu, was es denn eigentlich gibt. Sie sagen draußen, die Österreicher seien wieder von den Franzosen geschlagen und seien auf dem vollen Rückzuge von Jülich und Düren her, und zwischen hier und Düsseldorf gingen sie über den Rhein, und nun würden wir die Franzosen hier haben, vielleicht in dieser Nacht noch ... Gott steh' uns und allen Christenmenschen bei!«
Bracht war aufgestanden und nahm seine schöne Pelzmütze mit dem Fuchsschwanz und sein spanisches Rohr. »Es wird so arg nicht sein,« sagte er, »wenn es auch arg genug sein wird. Ich will zum Rathause gehen. Sie geht wohl mit hinunter, Traudchen?«
»Ja, ich gehe mit Ihnen«, sagte Traudchen und warf ihr Umschlagetuch um. Dann verließen sie beide das Haus. Auf der Straße, wo in der Tat eine ungewöhnliche Bewegung herrschte, ging das junge Mädchen schweigend neben dem Professor her. Dann bot sie ihm plötzlich eine gute Nacht, um in eine nach rechts sich abzweigende Straße einzubiegen.
»Wohin will Sie, Traudchen?« fragte Bracht.
»Nach dem Blankenheimer Hof.«
»Nach dem Blankenheimer Hof?« fragte der Professor verwundert. »Doch nicht zu dem österreichischen General?«
»Zum Grafen Baillot«, entgegnete Traudchen entschlossen und verschwand eiligen Schrittes in der dunkelnden Nebengasse.
Bracht blickte ihr kopfschüttelnd nach; dann setzte er sorgenerfüllt seinen Weg fort.
Der Professor fand die Hiobsposten seiner Gattin nur zu bald bestätigt; als er in die Nähe des Rathauses gelangte, begegneten ihm Bekannte, welche durch ihre Beziehungen zu den regierenden Herren der Stadt imstande waren, die genauesten Nachrichten zu geben, und es zu bekräftigen, daß die Österreicher unter Clairfayt, bei Aldenhoven zurückgedrängt, ihren Rückzug über den Rhein in der Gegend von Neuß nähmen. Aus den fernen Gassen schallte Trommelwirbel herüber, die österreichischen Marschtrommeln, die andeuteten, daß die Truppe, welche die Stadt trotz ihres Widerstrebens hatte als Besatzung aufnehmen müssen, im Abziehen begriffen sei. Die freie Reichsstadt hatte sich aus Leibeskräften gesträubt, sich von andern deutschen Truppen als von ihrer eigenen Soldmiliz beschützt zu sehen; dumpfe Gärung war durch die Reihen ihrer tapfern und ausgezeichneten Funken gegangen, als zum ersten Male nach dem Ausbruch des Krieges österreichische Korps in die Tore gerückt waren.
Und jetzt – – wo diese Österreicher abzogen, wo eine unberechenbare, fremde, durch den Sieg trunken gemachte, von entfesselten Leidenschaften beherrschte Macht ihnen auf den Fuß zu treten drohte ... wie gern hätten da die ängstlich erregten, auf die kommenden Ereignisse voll Sorge gespannten Gemüter der auf ihre »Neutralität« so eifersüchtigen Bürger diese Österreicher zurückgehalten! Diese gutmütigen Österreicher, die sich so viel gefallen ließen, mit denen man um jedes Quartier, jede Ration, jede Gewährung sich gezankt und gefeilscht, bis man sie in kärglichem Maß den unvergleichlichen Truppen zugestanden ... den Truppen, welche, wenn sie einen ihrer würdigen Führer wie Clairfayt hatten, sich stets mit Ruhm bedeckten, die jetzt aber, wo alles sie verließ, das linke Rheinufer Deutschland nicht retten konnten.
Die nach ihnen kamen, traten anders auf; denn sie kamen in der Tat; kamen schon am andern Tage. Schüchtern und demütig bot ihnen eine Abordnung des Magistrats, die ihnen eine halbe Stunde weit entgegen gegangen, die Schlüssel der freien deutschen Reichsstadt dar. Ein jugendlicher General, ein hochgewachsener schöner Mann mit anmutigen Bewegungen und dunkeln Feueraugen, der seine Tagesbefehle mit dem Namen Championnet unterzeichnete, nahm diese Schlüssel entgegen. Er ließ es nicht fehlen an schönen Verheißungen. Dann begann der Einmarsch der Avantgarde des französischen Heeres durch die dunkeln Torwölbungen der alten heiligen Stadt, die so lange ein Kernpunkt echt deutschen Lebens, ja, die Metropole der deutschen Kulturentwicklung gewesen war, seitdem es ein Reich deutscher Nation gegeben.
Es war eine seltsame Bande, diese siegreichen Truppen der französischen Republik, welche kamen, das deutsche Kaiserreich über den Haufen zu stürzen. Zuerst rückten Jäger ein; sie sahen aus wie Mannschaften, welche einen harten Feldzug mitgemacht haben, auszusehen pflegen: abgerissen, von Wind und Wetter mitgenommen; aber sie sahen aus wie geschulte Soldaten; sie waren uniformiert, gleichmäßig bewaffnet, sie marschierten, wenn nicht in geschlossenen Gliedern, doch in einer gewissen Ordnung, ihre Hornisten vorauf. Verwundersam aber war anzuschauen, was hinter ihnen drein marschierte; lange Züge von seltsamen Menschenkindern. Es war, als ob alle Zigeuner der Welt sich auf die Wanderschaft begeben und als ob sie sich dazu ausgerüstet, indem sie alle Trödlerläden des Erdenrundes vorher ausgestohlen. Die meisten waren kleine, schwarzäugige, gelbe Gesellen; der eine mit einem dreieckigen Hut und Federbusch auf dem unternehmend dreinschauenden Spitzkopf, der andere bedeckt mit einer grauen Filzkappe; der eine in der Stallmütze, der andere mit der blauen Radmütze des baskischen Hirten; der eine im Kittel, der andere im erbeuteten blauen Uniformrock, dessen Schöße sich auf dem Marsche verspätet zu haben und erst mit einem folgenden Korps nachrücken zu wollen schienen. Kleidungsstücke, welche im bürgerlichen Leben für so unentbehrlich gehalten werden, wie Hemden, Strümpfe, Schuhe, schienen bei dieser Soldateska für abgelegte Vorurteile zu gelten; und was beibehalten, das war zerlumpt, zerrissen und geflickt. Ebenso war ihre Bewaffnung, wie der Zufall sie ihnen zugeführt, und ihr Marsch ein regelloses Durcheinander. Und doch, wenn sie auch nebeneinander liefen, wie es jedem Einzelnen gefiel, schwebte über ihren Reihen ein gewisser unsichtbarer Geist der Disziplin und Ordnung – man ahnte, daß diese nachlässig einherschlendernden Haufen auf ein ernstes Kommando im Augenblick der Gefahr sich in Blitzesschnelle ordnen und zu festen Gliedern zusammenschließen würden.
Die Bevölkerung der Stadt hatte sich in den Straßen zusammengedrängt, um dem Einmarsch dieser Heersäulen zuzuschauen. Ängstliche Spannung lag auf fast allen Gesichtern, auf einigen wenigen Freude und Triumph; noch seltener waren in dem allgemeinen Schweigen die vereinzelten Rufe: Vivent les Français! – Vive la liberté! – Vive la République! obwohl sie hier und dort vernommen wurden. Die einmarschierenden Truppen achteten nicht darauf; höchstens schienen diese Rufe die Heiterkeit zu erhöhen, welche in einzelnen Gruppen herrschte, wo die Spaßmacher und witzigen Köpfe des Zugs ihre Scherze über irgendein ihnen auffallendes Ding, die Physiognomie eines Zuschauers, das Aussehen eines schwarzen baufälligen Hauses, oder was sonst ihren Spott hervorlocken mochte, zum besten gab.
An der Ecke des Neumarkts, da, wo die Schildergasse beginnt, hatte sich eine Gruppe von Zuschauern gebildet, von denen uns einige bekannt sind.
Während nämlich die Professorin Bracht mit ihren zwei lieblichen Töchtern Haus und Laden überwachte, hatte der Professor den Auftrag bekommen, die Hut seines hoffnungsvollen Söhnchens Drickeschen zu übernehmen, der durchaus auf die Gasse hinaus und dem merkwürdigen Schauspiel beiwohnen wollte; und Drickeschen hatte den nachgiebigen Mann dem Strome nach bis zum Neumarkt gelockt. Hier hatten beide zuerst die Spitze der einmarschierenden Truppen wahrgenommen, aber die dem Professor gestellte Aufgabe, seinen unruhigen und unbotmäßigen Sohn vor Beschädigung zu hüten und in heilem Zustand nach Hause zurückzubringen, war auch hier in bedenklicher Weise erschwert worden. Drickeschen nämlich, dessen kindliche Statur nicht ausreichte, über die Köpfe der drängenden Menge fort das Schauspiel zu übersehen, welches in so hohem Grade sein Interesse in Anspruch nahm, hatte den Entschluß gefaßt, auf das Dach einer an dem Eckhause befindlichen Pumpe zu klettern. Gewiß war dieses Auskunftsmittel kein an und für sich unzweckmäßiges – es trat ihm nur der Umstand in den Weg, daß besagtes Dach