Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
Mann …
Wie eine langsam ansteigende Flut überschwemmten die Orks nun das wellige Land vor den Ausläufern jener Wälder, die auch die Hügel der Elfenlande bedeckten. Leones lenkte Sturmlöwe noch einmal niedriger über die Reihen der Untoten hinweg. Während sie in Nebel und Dunkelheit alle gleich ausgesehen hatten, entdeckte er nun deutliche Unterschiede. Manche wirkten, als bestünden sie aus dunklem Leder, andere waren aufgeschwemmt wie eingeweichtes Brot und hätten bei jedem Schritt zerfallen müssen, doch sie taten es nicht. Wie in Theroia hielt sie eine rätselhafte Macht zusammen. Dieselbe Macht, die sie immer wieder aufstehen ließ. Schaudernd erinnerte sich Leones an die Wehrlosigkeit, als damals seine Magie zur Neige gegangen war. Wollte er das wirklich noch einmal erleben? Wollte er sein Leben opfern, um ein paar dieser Untoten mit ins Nichts zu nehmen? Oder sollte er es Vedsevia und Perian gleichtun?
Zweifelnd blickte er wieder hinab. Wenn man es nicht besser wusste, sahen die Orks nach erbärmlichen Gegnern aus. Nicht alle trugen die üblichen Lederharnische, viele nicht einmal mehr Gürtel oder Stiefel. Etliche Fäuste umklammerten einen Axtkopf oder eine rostige Klinge ohne Griff, andere hielten nur noch die Stiele einstiger Waffen. So manchem fehlte eine Hand oder ein Arm, oder die Verwesung hatte seinem Körper großflächig zugesetzt. Gelblich verfärbte Knochen ragten aus ihren faulenden Leibern, doch obwohl das ganze Heer so widerlich stank, dass es Leones fast den Magen umdrehte, umschwirrte nicht eine Fliege die Leichen.
Erst als Sturmlöwe wieder an Höhe gewann und es dennoch wärmer wurde, merkte Leones, welche Kälte von den Untoten ausging. Fröstelnd lenkte er den Greif nach Osten zurück. Sie würden sich über die Elfenlande ergießen wie die Flutwelle über die Küste – und sämtliche Dörfer und Städte vernichten. Sie würden nicht ruhen, bis sie jeden niedergemetzelt hatten, selbst die Frauen und Kinder. Betroffen schüttelte Leones den Kopf. Weglaufen war töricht. Es gab kein Entkommen. Aber jeder Ork, den er heute Nacht verbrennen konnte, war ein Untoter weniger, der nach Osten vordrang. Ein Mörder weniger, der die Wehrlosen dort erreichte. Ich werde so viele ins Nichts schicken, dass mich die Seelenfänger im Gewimmel übersehen. Einen Moment lang bereitete ihm die Vorstellung diebische Freude, doch dann erinnerte er sich, dass es nichts nützen würde. Es gab kein Ewiges Licht mehr, in das er sich retten konnte. Egal, was er tat, seine Seele war verloren. Ernüchtert kehrte er nach Nehora zurück. Er war noch immer entschlossen, aber die grimmige Vorfreude wollte sich nicht mehr einstellen.
Als Sturmlöwe in den Hof hinabstieß, scheuten die Pferde und versuchten zu fliehen. Von den Wänden hallte das Klappern ihrer Hufe wider, dass selbst Theremons zornige Stimme darin unterging. Während Leones gereizt von seinem Greif sprang, marschierte Keatos ungerührt zwischen den panischen Tieren hindurch, und wie auf ein geheimes Zeichen hin schlossen sie sich ihm an. Sie äugten zwar weiterhin misstrauisch zu Sturmlöwe herüber, trotteten jedoch hinter Keatos her in die entfernteste Ecke des Hofs und blieben dort stehen. Niemand sonst unter den Kameraden besaß so große Macht über Pferde.
»Wozu sind sie noch hier?«, wollte Leones wissen, als er zu Theremon trat. Das Tor Nehoras war bereits geschlossen, und wenn die Tiere nicht gebraucht wurden, weideten sie für gewöhnlich frei im Wald.
»Haben wir denn noch Zeit für Erklärungen?«, fragte der Erste mit strengem Blick. Vermutlich hatte er seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, weshalb seine Haut grau wie Asche aussah.
»Ja, Erster. Sie werden nicht vor der Abenddämmerung hier sein. Spätestens aber bei Mondaufgang.«
Theremon nickte. »Gut, dann können sie unsere Feuer nicht übersehen.«
Falls solche Kategorien für Untote überhaupt galten. Leones wusste nicht, wie sie ihre Umgebung wahrnahmen. Immerhin besaßen die meisten von ihnen keine Augen mehr. Dennoch entging ihnen scheinbar weniger als so manchem Lebenden.
»Wenn es die Angreifer über die Mauer schaffen, sollen uns die Pferde den Rückzug ermöglichen«, eröffnete ihm der Erste und deutete zu Keatos und Rhayuna hinüber. Die Faust und der Sohn Ameas zurrten eine Plane über einem Haufen Stroh fest, den sie auf der Ladefläche des großen Karrens aus der abgebauten Scheune aufgetürmt hatten. »Das Tor und die Tiere werden unser einziger Weg aus der Falle sein.«
Leones brummte etwas, das Theremon als Zustimmung deuten konnte. Es war beruhigend und seltsam enttäuschend zugleich, dass der Erste keinen Heldentod für sie plante, aber dort draußen rückten zu viele Wiedergänger an, um auf ein Entrinnen zu hoffen.
»Los, komm!« Theremon bedeutete Leones, ihm zu folgen. »An die Arbeit!«
Drei der fünf gefällten Kiefern lagen bereits ohne Äste auf dem Hof. Leones schnappte sich eine Axt und half dem Ersten, auch die verbliebenen Bäume ihrer Kronen zu berauben. Während Danael Wache hielt und Keatos sämtliche Körbe aus den Kellern und Kammern der Festung zusammentrug, holte Die Faust das kleine Teerfass aus der Werkstatt und bestrich die entasteten Stämme mit der klebrigen, schwarzen Masse. Sorgfältig ließ sie jene Stellen frei, an denen sie die Rinde noch berühren mussten. Wer vorhatte, mit Brandpfeilen zu hantieren, sollte besser keinen Teer an den Fingern haben.
Als die Sonne bereits tief über dem westlichen Horizont hing, versuchten sie, den ersten Stamm auf den Wehrgang zu hieven. Doch obwohl sie zu viert an den Stricken zerrten, gelang es ihnen nicht. Sie fluchten, schwitzten, stemmten sich in die Seile. Der Baum hob sich kaum eine Handbreit.
»So wird das nichts«, ächzte Theremon schließlich. »Wir vergeuden nur unsere Kraft.«
»Verdammt!«, fluchte Leones und hätte am liebsten nach etwas getreten. Es war sein Einfall gewesen. Sollte die ganze Arbeit nun umsonst gewesen sein? Mithilfe einer Holzkonstruktion und umgelenkten Stricken hätten sie die Pferde einsetzen können, aber für solche Bauten blieb keine Zeit mehr.
»Ich kann sie heben«, merkte Danael vom Turm herab an.
Überrascht blickten alle nach oben.
»Durch Magie?«, fragte Theremon.
Danael nickte.
Düster runzelte der Erste die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Du wirst dich erschöpfen, und wir brauchen dich im Kampf. Dank deiner Luftmagie bist du unser bester Schütze.«
»Jeder dieser Stämme wird etliche Pfeile ersetzen, und schießen kann ich auch ohne Magie«, wehrte Danael ab.
Theremon wog die Worte einen Moment lang ab. »Also schön, komm runter! Ich übernehme so lange deinen Posten.«
Zwiegespalten sah Leones ihm nach. Warum hatte er nicht ihn auf den Turm geschickt? Wollte sich der Erste eine Pause gönnen, oder steckte mehr dahinter? Noch nie hatte er Leones für die Wache eingeteilt. Er vertraut mir immer noch nicht. Seit zwei Tagen schufteten sie Seite an Seite, treulose Kameraden setzten sich einfach ab, Danael hatte seine Unschuld bestätigt, und doch hegte Theremon Misstrauen gegen ihn, gegen den nie überführten Verräter. Mürrisch packte Leones wieder mit an. Was beklagte er sich? Der Erste hielt ihn für das, was er war.
Dank Danaels Magie wurden die Stämme so leicht, dass es ihnen gelang, sie auf die drei wichtigsten Wehrgänge zu ziehen und dort an den Mauerkanten abzulegen. Danaels Macht versetzte Leones in Staunen. Aus irgendeinem Grund war er immer davon ausgegangen, dass sein Kamerad nur den eigenen Körper beeinflussen konnte, denn dieses Kunststück beherrschten die meisten Abkömmlinge Heras – von Rhayuna abgesehen, weshalb sie am Boden umso erbitterter kämpfte.
»Das sind sie!«, rief Theremon plötzlich.
Alle erstarrten in der Bewegung. Leones’ Herz hämmerte gegen die Rippen, als wäre er gerannt. Für einen Lidschlag zerrte das volle Gewicht des Baumstamms an den Seilen, dann hatte sich Danael wieder gefangen.
»Macht weiter!«, schimpfte der Erste. »Sie sind noch weit weg. Aber beeilt euch gefälligst!«
Hastig zogen sie den letzten Stamm in Position. Über ihnen loderte das Signalfeuer des Nordturms auf. Auch wenn die Sonne gerade erst unterging, sollte Nehora nicht zu übersehen sein. Theremon hetzte die Stufen herab. »Rhayuna, Südturm!«, schnappte er nur, und Die Faust eilte davon, um das zweite Feuer zu entfachen. »Danael, ruh dich aus! Ihr anderen kommt mit mir. Schafft so viele Körbe