Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
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Als Laurion erwachte, schimmerte die Sonne bläulich rot durch den Nebel. Erneut fuhren sie ohne Segel stromaufwärts, immer weiter gen Norden. Nemera und Rhea bewunderten gerade einen Hirsch. Er war wohl zum Trinken ans Ufer gekommen und äugte nun beunruhigt zu den Schiffen herüber.
»Sieh mal!«, rief Rhea. »Der Gazelle wachsen Äste aus dem Kopf. Wie bei einem Baum.«
»Das ist keine Gazelle«, erklärte Nemera, »sondern ein Hirsch. In Ehala hatten wir ein paar solcher Geweihe im Palast. Es waren Geschenke der Fürsten vom Oberlauf des Mekat.«
»Und sie können die Geweihe auch abwerfen«, fügte Laurion hinzu. »Ich habe selbst gesehen, dass sie dann wieder nachwachsen.«
»Bekommen sie auch Blätter?«, staunte Rhea.
»Natürlich nicht«, antwortete er belustigt.
»Es sind doch Tiere«, ergänzte Nemera. Sie wirkte so unbeschwert, dass Laurion die Gefahren wieder einfielen. Rasch drehte er sich um, doch Ameathar und seine Bewacher waren gerade nicht zu sehen. Die Sümpfe entlang der Ufer zwangen sie ständig zu Umwegen. Laurion fiel auf, wie schmal der Fluss geworden war. Ein geübter Krieger wie der Kaysar konnte ihn mit einem Speerwurf überwinden. Noch besaß er für ihre Schiffe ausreichend Tiefe, doch die Sandbänke machten es unmöglich, sich gegenseitig zu überholen. Stets musste im Bug jemand Ausschau nach ihnen halten.
Der Schrei eines Greifs lenkte Laurions Aufmerksamkeit nach oben. Drachenauges Chimäre begrüßte jene des zurückkehrenden Spähers. Im Flug rief der Kundschafter seinen knappen Bericht, und der Anführer nickte und sah zu den Schiffen hinab. »Hinter der nächsten Biegung legen wir am Westufer an!«, verkündete er laut.
»Wir fahren nicht bis Yirgalem?«, fragte Maraya überrascht.
»Nein«, antwortete einer der Grenzwächter. »Dort könnten die Menschen zu viel Aufsehen erregen. Wir wollen unsere alten Verfolger nicht gegen neue eintauschen.«
Maraya wirkte betroffen. »Euer Misstrauen gegen mein Volk schmerzt mich, aber angesichts der Ereignisse kann ich es Euch nicht verübeln.«
»Sollt Ihr uns nicht an einen Ort namens Anvalon bringen?«, wunderte sich Laurion.
»Das werden wir«, bestätigte der Grenzwächter. »Aber von jetzt an müsst ihr zu Fuß gehen.«
»Ist es weit?«, erkundigte sich Nemera.
»Zwei, drei Tagesmärsche.« Der Elf grinste spöttisch. »Kommt darauf an, wie schnell ihr seid.«
»Dann sehen wir den Kaysar bald wieder«, freute sich Rhea.
»Drei Tage zu Fuß durch die Gegend stapfen«, brummte Djefer. »Ich bin Fischer, kein Eseltreiber.«
Laurion schüttelte den Kopf. »Möchtest du lieber auf dem Fluss bei diesen Wahnsinnigen bleiben?«
Djefer grummelte eine unverständliche Antwort. Zur Linken kam eine flache Stelle in Sicht, die sich zum Anlegen anbot. Während hinter ihnen langsam die Amea-Krieger nahten, lenkten die Schiffsführer die drei Boote aufs sandige Ufer. Grenzwächter sprangen ins knöcheltiefe Wasser, um die Schiffe so weit wie möglich auf den Strand hinaufzuziehen. Drachenauge landete und glitt von seinem Greif. »Alle runter von den Booten! Kurze Rast, dann geht es weiter!«
»Nehmt alles mit, was euch wichtig ist!«, rief Nemera ihren Untertanen zu. »Der Kaysar erwartet uns, und wir werden wohl nicht mehr hier herkommen.«
Bevor Laurion von Bord sprang, schätzte er den Abstand der Verfolger. Vielleicht würde endlich alles gut werden, wenn sie den Fluss hinter sich ließen. Um Nemera zu einer würdigen Landung zu verhelfen, reichte er ihr eine Hand. »Gibt es etwas, das ich Euch von der Kemethoë holen soll?«
»Nein, Sirkit wird sicher an alles denken.«
Dennoch ging Laurion zur Kemethoë hinüber, die ihn immerhin treu über den Ozean getragen hatte. Auch wenn sie nur aus totem Holz bestehen mochte, verspürte er den Drang, über die Planken zu streichen und ein letztes Mal die Magie zu spüren, die darin eingewoben war. Was immer nun aus Eleagons stolzem Schiff werden würde, sie schuldeten ihm Respekt und Dank. Mögest du noch lange die Meere befahren!
Einen Augenblick lang schien es, als bebe das Holz zur Antwort unter seinen Fingern, doch dann hörte er das Trommeln eiliger Hufe und merkte, dass auch der Sand unter seinen Füßen zitterte. Alarmiert sah er sich nach den Pferden um, die im Galopp durchs Unterholz brachen. Gefolgt von ihrer kleinen Herde lediger Tiere kamen die beiden Reiter herangeprescht.
»Der Gefangene ist entkommen!«, rief einer von ihnen.
Drachenauge entfuhr ein Fluch. »Wie konnte das passieren?«
Sein Untergebener sah ihn trotzig an. »Der verlogene Kerl hat mich überrumpelt! Er sagte, er müsse sich erleichtern, also wollte ich ihn absteigen lassen. Kaum hatte ich seine Füße losgebunden, hat er mir gegen das Kinn getreten, dass ich hintenüber gefallen bin.« Das rote Mal in seinem Gesicht war unübersehbar.
»Ich bin ihm sofort gefolgt«, verteidigte sich der andere Wächter. »Aber er hat sein Pferd in den Fluss getrieben und sich ins Wasser gestürzt. Seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
»Wir haben lange Ausschau gehalten und alles abgesucht«, versicherte sein Kamerad. »Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Vielleicht ist er ertrunken. Immerhin war er gefesselt. So lange kann doch niemand die Luft anhalten.«
»Soll ich das etwa hoffen?«, empörte sich Drachenauge. »Dass Elfenblut an unseren Händen klebt?«
Beschämt blickten die beiden Reiter zu Boden.
»Ihr habt’s gehört!«, wandte sich ihr Anführer an alle. »Ich will sofort vier Wachen rund um das Lager! Ihr beide werdet ab jetzt die Nachhut übernehmen. Die Kommandantin erwartet, dass wir diese Menschen lebend nach Anvalon bringen, also werden wir genau das tun!«
»Ich werde Euch begleiten«, verkündete Maraya.
»Aber wir wollten doch nach Everea zurück«, protestierte der Sohn Ameas, der sich am Steuer mit ihr abgewechselt hatte.
»Hast du die Lehren des gütigen Alfars von Wey vergessen? Für das Töten der Fische stehen wir beim Sein in besonderer Schuld. Wir dürfen unsere Brüder und Schwestern – und diese Menschen – nicht im Stich lassen. Schon gar nicht, wenn sie einer der unseren angreift.«
»Womöglich stachelt er die anderen wieder gegen uns auf«, fürchtete Drachenauge. »Wir müssen vom Fluss weg. Esst unterwegs! Wir brechen auf!«
* * *
Das Heer der Orks erstreckte sich, so weit Leones’ Blick reichte. Die schwarzen Gestalten bedeckten das Moor wie Ameisen ihren Hügel, nur dass sie sich alle in dieselbe Richtung bewegten. Dieses Mal schenkten sie dem Greifenreiter keine Beachtung. Er flog zu hoch über ihnen, um ein lohnendes Ziel abzugeben, und doch konnte er sie im Sonnenlicht deutlich sehen. Ohne Eile stapften sie voran, aber auch ohne Unterbrechung. Sie kannten weder Hunger noch Müdigkeit, nur den Durst nach Rache. Wahrscheinlich waren sie in der Schlacht am Fallenden Fluss gestorben – hatte zumindest der belesene Perian gesagt. In jenem Krieg, der keinen Namen trug, weil niemand über ihn sprach. Der Krieg, der das Zeitalter der Elfen beendet hatte.
Perian. In bitterem Spott verzog Leones das Gesicht. Noch so ein Verräter. Während sie den ganzen Vormittag Kiefern gefällt und mithilfe der Pferde zur Festung hinaufgezogen hatten, war er davongeschlichen. Ohne Erklärung, ohne ein Wort des Abschieds. Verdammter Feigling! Hatte ihn die Flucht der Tiere so erschreckt? Seit dem Morgen waren sie durch die Wälder am Fuß Nehoras gehetzt. Wolfsrudel, Elche, schweißnasse Hirsche und Rinder, hechelnde Füchse, denen die Zunge bis zum Boden hing. Hatte er sich von ihrer Angst anstecken lassen? Er war ein Sohn Ardas und ein Heiler dazu, vielleicht hatte ihm auch das Töten der Bäume den Rest gegeben, ihm gezeigt, dass er in der Wache seit jeher fehl am Platz war. Auch Leones hatte es geschmerzt, die Axt in die Leiber der jungen Kiefern zu treiben, denen das Sein