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Als er den Gruß der Wache auf dem Nordturm erwiderte, verzog er unwillkürlich das Gesicht. Sein Arm war schwer wie Stein, doch die schmerzenden Muskeln bewiesen, dass er immer noch aus Fleisch und Blut bestand. Vielleicht sollte er den Heiler doch nach seiner Schulter sehen lassen, bevor sie sich in den Kampf gegen die Orks stürzen mussten.

      Aus der Ferne hatte Leones den Wächter für Die Faust gehalten. Gestalt und Steppmantel stimmten. Doch als er näher kam, bemerkte er das strohblonde Haar. Danael. »Du hattest recht!«, rief er seinem Kameraden zu. »Untote Orks!«

      Danael hob noch einmal die Hand, um zu zeigen, dass er verstanden hatte, dann war Leones an ihm vorüber, und Sturmlöwe jagte in den Hof hinab. Bevor sie auf den harten Boden prallen konnten, fing er den Sturz mit einem Flattern ab.

      Niemand war auf dem Hof zu sehen. Vor Sturmlöwes Unterstand entdeckte Leones im Vorübereilen den toten Hirsch. Der Kadaver lockte die letzten Fliegen des Herbstes an. Warum hatte ihn niemand in die Gewölbekeller gebracht, wo es kühler war? Verärgert hämmerte Leones an Theremons Tür. Sobald er Bericht erstattet hatte, würde er sich über den Mangel an …

      »Was gibt’s denn?«, schnappte der Erste, während er die Tür aufriss. Die Falten zwischen seinen Brauen waren tiefer denn je.

      »Ein Heer untoter Orks marschiert auf uns zu! Es sind Tausende!« Mit halbem Ohr hörte Leones, dass sein Gepolter die Kameraden aufgeschreckt hatte. Aus dem Augenwinkel sah er Vedsevia aus der Werkstatt treten, in der sie Bögen anfertigte. Seit Generationen übte ihre Familie dieses Handwerk für die Grenzwache aus.

      Theremon wirkte einen Augenblick lang überrascht, dann rieb er sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Tod verdammt«, flüsterte er.

      Verblüfft starrte Leones ihn an. Das war alles? Ein gemurmelter Fluch? Theremon war der Erste, er musste Maßnahmen ergreifen, Befehle erteilen. Wo war die Entschlossenheit geblieben, mit der er sie sonst herumgescheucht hatte? »Habt Ihr nicht verstanden? Ich habe einen breiten Streifen des Moors abgeflogen. Sie sind überall! Morgen Nacht werden sie hier sein!«

      »Morgen schon?« Erneut zuckten Theremons Brauen überrascht nach oben, bevor sie sich wieder zusammenzogen.

      Leones nickte energisch. »Sie müssen Tag und Nacht unterwegs sein, sonst wären sie nicht so schnell vorangekommen.«

      »Das ist das Ende«, erklärte Perian hinter ihm.

      Leones wirbelte zu ihm herum. »Dreht ihr jetzt alle durch? Was ist los mit euch?«

      Der Heiler und Keatos waren vom Speisesaal herübergekommen und standen nun mit Vedsevia im Halbkreis um Leones und den Ersten herum. Nur Die Faust fehlte. Wahrscheinlich schlief sie nach einer Nacht auf Wache. Leones’ Blick schweifte von einem Gesicht zum anderen. Sie hatten diesen Kampf bereits aufgegeben. In ihren Mienen fand er nur Trauer. Wie konnte das sein? Sie hatten doch gerade erst von der Bedrohung erfahren.

      »Das Ewige Licht wurde zerstört.«

      Leones sah Perian ungläubig an. War das ein schlechter Scherz? Der Erste würde sich bestimmt nicht daran beteiligen. Auf Erlösung hoffend drehte er sich zu Theremon um, doch der Erste blickte ebenso düster wie zuvor.

      »Es ist wahr«, bestätigte er. »Die Nachricht stammt von der Kommandantin selbst.«

      Der Falke aus Anvalon! Plötzlich spürte Leones den Boden unter seinen Füßen nicht mehr. Ihm war, als fiele er in einen Abgrund, doch in Wahrheit stand er vor Theremon und starrte ihn an. Seine Gedanken wirbelten durcheinander wie Funken über einem Feuer, in das der Wind fuhr. Wie hatte es geschehen können? Wer hatte es getan und warum? Wie sollte es nun weitergehen? In Theremons Blick fand Leones keine Hoffnung.

      Einen Moment lang standen sie alle schweigend im Hof. Nur das Schmatzen und Reißen war zu hören, mit dem sich Sturmlöwe erneut über den Kadaver hermachte. Je mehr sich Leones’ Gedanken klärten, desto schwerer lastete die Neuigkeit auf ihm. Ohne Ewiges Licht gab es keine Zukunft. In ein paar Hundert Jahren würden die letzten Elfen ohne Nachkommen sterben. Sein Volk würde vom Angesicht Ardaias verschwinden. Wie von selbst suchte sein Blick nun Vedsevias. Ihre Ahnungen hatten sie nicht getrogen. Es war etwas Entsetzliches geschehen, das Schrecklichste, das überhaupt denkbar war. In ihren Augen flackerte wilde Verzweiflung.

      »Und was tun wir jetzt?«, wandte er sich an Theremon.

      »Wir sollten uns alle in Sicherheit bringen und nach Hause gehen«, forderte Perian mit einem raschen Blick zu Vedsevia. »Einer ganzen Armee sind wir doch niemals gewachsen.«

      »Aber wenn wir sie nicht aufhalten, werden wir nirgends mehr sicher sein«, hielt Leones dagegen. »Sie werden die ganzen Elfenlande überrennen!«

      »Wenigstens sterben wir dann nicht fern von unseren Freunden und Familien«, sagte Vedsevia.

      »Wir sind die Grenzwache!«, rief Leones. »Die anderen verlassen sich auf uns.« Wollte Theremon denn nichts dazu sagen?

      Keatos schüttelte den Kopf, sodass sein silbernes Haar das Gesicht umwogte. »Du hattest nur noch nicht genug Zeit, um darüber nachzudenken. Es ist vorbei. Unser Dienst ist sinnlos geworden. Wir sollten verschwinden, solange wir noch können.«

      War das zu fassen? »Warum bist du dann noch hier, du Feigling?«

      »Weil man Kameraden nicht im Stich lässt«, erwiderte Keatos kühl. »Selbst wenn sie dumm und anmaßend sind.«

      Leones merkte, wie er vor Wut die Fäuste ballte.

      »Schluss jetzt mit dem Gerede!«, fuhr Theremon auf. »Wir werden unsere verdammte Pflicht erfüllen.«

      »Aber Ihr habt doch selbst ge…«

      Zornig fiel der Erste Vedsevia ins Wort. »Da wusste ich noch nichts von diesem Heer. Herr des Lebens! Sollen sie alles überrennen, während wir uns davonstehlen? Wir werden auf unserem Posten bleiben, bis wir einen anderen Befehl erhalten, verstanden?«

      Betreten sah sie zu Boden und nickte. Auch der Heiler zog es vor, seine Stiefel zu betrachten, während er zustimmend brummte. Nur Keatos erwiderte Theremons Blick. »Und wie gedenkt Ihr, diese Untoten zu besiegen, Erster?«

      »Vom Siegen war nie die Rede. Wir müssen handeln. Perian, sende Nachricht an alle Posten entlang der Westgrenze! Ich werde nach Uthariel schreiben und Verstärkung anfordern, aber rechnet nicht damit, dass sie rechtzeitig eintrifft.«

      Leones nickte. Nicht einmal ein Greifenreiter konnte die Strecke schnell genug zurücklegen.

      »Vedsevia, du und Keatos werdet für den Rest des Tages Brandpfeile fertigen. Feuer ist das Einzige, was Untote aufhält. Leones, du bist der Feuermagier unter uns. Falls dir etwas zu unserer Verteidigung einfällt, lass es mich wissen. Ja?«, wandte er sich an Keatos, der vorgetreten war.

      »Ich stelle Eure Befehle nur ungern infrage, aber wer sagt, dass uns diese Wiedergänger überhaupt angreifen werden? Sie könnten einfach an Nehora vorbeimarschieren.«

      »Guter Einwand«, stimmte Leones widerwillig zu. »Es sind Untote. Im Gegensatz zu lebenden Gegnern wird es ihnen gleichgültig sein, ob wir ihnen in den Rücken fallen.«

      Einen Augenblick lang sah es aus, als ob Theremons Eifer so jäh erlosch, wie er aufgeflammt war. Doch dann fing sich der Erste und nickte. »Ihr habt recht. Selbst wenn wir einen Teil dieses Heers hier binden, wäre es möglich, dass der Rest die umliegenden Dörfer niedermacht. Leones, geh Die Faust wecken! Sie soll Danael auf der Mauer ablösen. Du übernimmst die Brandpfeile. Perian wird dir helfen, sobald er die Botschaften geschrieben hat. Warum stehst du überhaupt noch hier?«, herrschte er den Heiler an, der gehorsam davoneilte. »Keatos, du reitest nach Norden, Vedsevia nach Osten, Danael wird den Süden übernehmen. Die Leute sollen fliehen. Macht ihnen klar, dass es um Leben und Tod geht! Bei Sonnenuntergang will ich euch wieder hier sehen!«

      * * *

      Omeon war verschwunden. Wen Athanor auch nach ihm fragte: Seit die Elfen nach dem Kampf mit dem untoten Giganten zurückgekommen waren, hatte ihn niemand mehr gesehen. Einige Abkömmlinge Ardas durchsuchten das Anwesen und die Umgebung


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