Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
»Eine neue Bogensehne. Die hier ist spröde geworden«, schätzte Leones und fuhr noch einmal prüfend mit den Fingern darüber.
Die Faust verschwand mit einem Nicken nach draußen. Manchmal kam es Leones vor, als sei sie die Einzige auf Nehora, die jeden gleich behandelte. In den Übungskämpfen schlug sie auch immer gleich fest zu – egal, wen sie vor sich hatte. Leones ertappte sich bei einem Schmunzeln. Vielleicht hielten ihn doch nicht alle für ein mieses Schwein.
Während er sich Tasche, Umhang und Köcher umhängte, ging er in Gedanken noch einmal die Ausrüstung durch. Wenn er allein in die Wildnis flog, durfte er nichts vergessen. Das Nötigste hatte er bereits in seiner Gürteltasche, und er verwarf den Einfall, ein Seil mitzunehmen. Wenn er in zu tiefen Morast geriet, würde ihn Sturmlöwe herausziehen müssen, und mit einem Strick wusste der Greif nichts anzufangen. War die Chimäre überhaupt bereit, schon wieder zu fliegen? Als Leones zur Küche ging, lag Sturmlöwe mit prallem Wanst in der Sonne und schlief. Das verhieß nichts Gutes, aber sie durften keine weitere Nacht verstreichen lassen. Eins nach dem anderen, mahnte sich Leones. Vielleicht war Sturmlöwe wider Erwarten wach, bis er alle Vorbereitungen getroffen hatte.
In der Festungsküche herrschte trotz der beiden Fenster stets Dämmerlicht, was an der vom Rauch der Jahrtausende geschwärzten Decke lag. Schon beim Eintreten schlug Leones der Geruch nach Ruß entgegen, und auch jetzt qualmte ein kleines Feuer auf der Herdstelle, über der ein Wasserkessel hing. Daneben saß Vedsevia, die nachts mit Keatos auf Streife ritt, und barg ihr Gesicht in den Händen, als hätte sie Kummer. Leones war versucht, wortlos an ihr vorbei in die Speisekammer zu gehen. Er hatte genug eigene Sorgen und musste bald aufbrechen. Doch warum rührte sich die Tochter Ardas nicht, obwohl sie seine Schritte gehört haben musste? »Alles in Ordnung?«
Wie ein waidwundes Tier sah sie zu ihm auf. Ihre grünen Augen waren ungewohnt groß und dunkel, die hellbraunen Haare zerzaust, als sei sie gerade erst aufgestanden. »Ja, schon gut«, murmelte sie, obgleich ihre Augen das Gegenteil sagten.
Leones zuckte mit den Schultern. Na klar. Warum sollte sie sich auch ausgerechnet dem Verräter anvertrauen? Missmutig stapfte er weiter und füllte aus den Vorräten seine Provianttasche auf. Er beschränkte sich auf Verpflegung für die zwei Tage, die ein Spähflug gewöhnlich dauerte, aber zur Not konnte er damit auch deutlich länger durchhalten.
Als er die Tür zur Speisekammer wieder hinter sich schloss, saß Vedsevia immer noch da und starrte das mittlerweile kochende Wasser an, statt es in den Becher mit Blättern zu füllen, den sie wohl selbst auf dem Tisch bereitgestellt hatte. War sie etwa krank? Warum ging sie dann nicht zum Heiler?
Kopfschüttelnd schwenkte Leones den Haken, an dem der Kessel von der Decke hing, zur Seite und schöpfte mit einer Kelle heißes Wasser in den Becher. Mit dem Dampf stieg Espenduft auf. Erstaunt hob er die Brauen. Seine Mutter hatte ihm diese Blätter aufgebrüht, wenn er als Kind nach einem Albtraum verängstigt gewesen war. Weshalb trank eine unerschrockene Kriegerin diesen Tee?
»Irgendetwas ist geschehen«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Etwas Schreckliches.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Leones. Er hielt nicht viel von Ahnungen, aber sie sah so erschüttert aus, dass er es nicht so leicht abtun konnte.
»Als ich aufwachte, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie schrie. Sie rief nach mir. Ich soll nach Hause kommen.«
»Könnte es nicht einfach ein schlechter Traum gewesen sein?«
In ihrer Miene rangen Sorge und Zweifel um die Vorherrschaft. »Es klang so echt. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich es hörte. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf. Ich spüre, dass es wahr ist.« Mit jedem Wort wurde ihr Blick eindringlicher und verzweifelter. »Aber ich kann doch jetzt nicht um ein paar freie Tage bitten, um nach Hause zu reiten.«
Leones nickte. Es war undenkbar. »Wenn etwas vorgefallen ist, werden sie dir eine Nachricht schicken. Es hat keinen Sinn, vorher damit zum Ersten zu gehen. Falls überhaupt etwas passiert ist«, fügte er mit Nachdruck hinzu.
Seufzend vergrub Vedsevia wieder das Gesicht in den Händen und nickte. Sicher verstand sie, dass sein Rat das Vernünftigste war. Leones zögerte, aber was sollte er noch sagen? »Ich muss los. Theremon erwartet mich.«
Fahrig winkte sie ab. »Schon gut.«
Ihr Tonfall machte es Leones nicht leichter, doch seine eigene Unbeholfenheit ärgerte ihn so sehr, dass er nach draußen stürmte. Sie ist Grenzwächterin, verdammt! Sie wird schon zurechtkommen.
Auf dem Hof hatte sich Perian über Stumlöwe gebeugt, um ihn noch einmal zu heilen. Theremon stand vor der Tür seines Quartiers und sah zu Keatos hinauf, der wohl vorübergehend die Wache auf dem Nordturm übernommen hatte, damit Perian nach Sturmlöwe sehen konnte. Doch der silberhaarige Sohn Ameas blickte nicht über die Landschaft, sondern hantierte an den Fängen eines Falken auf seiner Hand herum. »Eine Nachricht aus Anvalon!« Woher eine Botschaft kam, verriet die Farbe der Bänder, mit denen sie befestigt wurde. Schwarz stand für Uthariel, Weiß für die Hauptstadt, und die übrigen Farben verteilten sich auf die anderen Festungen wie Nehora und Beleam.
Theremon runzelte die Stirn. Aus Anvalon erhielten sie nur dann Befehle, wenn sich die Kommandantin dort befand. »Bleib auf deinem Posten! Ich komme gleich hoch.« Ungeduldig wandte er sich Leones zu. »Du musst herausfinden, ob von diesen Untoten Gefahr für uns ausgeht. Wenn es unbedingt notwendig ist, hast du meine Erlaubnis, in den Sümpfen zu landen und zu übernachten, aber nur dann, verstanden? Unser letzter Greif ist zu wertvoll, um ein Risiko einzugehen. Also sei vorsichtig!«
Gereizt erwiderte Leones Theremons Blick. Hatte er seinen Greif verloren oder Danael? Er wusste selbst, wie viel von ihren Spähflügen abhing. »Ich werde entweder mit Sturmlöwe zurückkehren oder gar nicht.« Er hatte es sarkastisch sagen wollen, doch als er es aussprach, merkte er, wie ernst es ihm war. Sollte Sturmlöwe sterben, würde er Nehora den Rücken kehren und sich zu Fuß in seine Heimat durchschlagen. Unter Theremon gab es in der Grenzwache keinen Platz mehr für ihn.
Der Erste starrte ihn grimmig an. Noch schien er nicht sicher, ob ihn Leones verhöhnte oder nur seine Entschlossenheit zeigen wollte. »Viel Erfolg!«, wünschte er und wandte sich ab, um zu Keatos auf den Turm zu steigen.
»Du mich auch«, murmelte Leones.
Die Faust, die in der Nähe gewartet hatte, musterte ihn fragend, doch er schüttelte den Kopf. Als sie ihm die neue Flasche reichte, schwappte Wasser darin. Leones lächelte anerkennend. Nicht jeder Kamerad hätte sich die Mühe gemacht, die Flasche bereits für ihn zu füllen.
»Frisch bespannt.« Mit selbstzufriedener Miene gab sie ihm seinen Bogen zurück.
»Danke.«
Die Faust winkte ab. »Sieh zu, dass du uns rechtzeitig davor warnst, was sich da draußen zusammenbraut! Irgendwas geht da vor sich. Ich würde meinen Hintern darauf verwetten, wenn ich einen nennenswerten hätte.«
Lachend ging Leones zu seinem Greif und dem Heiler hinüber. Die Faust leistete eindeutig schon ein paar Jahrhunderte zu lange Dienst in der Wache, um noch wie andere Elfen zu sein. »Wie sieht’s aus?«, erkundigte er sich bei Perian, der Sturmlöwes Mähne kraulte.
Der Heiler richtete sich auf und sah ein wenig ertappt aus. Nutzte er die Sorge um Sturmlöwes Einsatzbereitschaft als Vorwand, um ihn zu hätscheln? »Falls er noch Muskelkater oder ähnliches hatte, sollte jetzt alles weg sein«, sagte er betont sachlich.
»Gut. Dann los, alter Junge! Es gibt Arbeit!« Leones deutete zur Mauerkrone hinauf.
Sturmlöwes dunkles Grollen ließ Leones’ Eingeweide beben, doch der Greif erhob sich, dehnte dabei gähnend Rücken und Glieder und spreizte die Flügel bis zur letzten Schwungfeder.
Sieht gut aus, befand Leones erleichtert und lief die Treppe hinauf. Vom Hof auf den Wehrgang zu flattern, war für die Greife anstrengend, weil die Aufwinde fehlten. Wenn es keinen Grund zur Eile gab, stieg Leones deshalb erst oben auf. Sturmlöwe erwartete ihn bereits. Witternd sog der Greif die Luft ein, dass sich die Nüstern