Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
Selbst ohne Eingeweide wog der Hirsch noch so viel, dass Leones bald ins Schwitzen geriet. Mit geschulterter Beute schleppte er sich zur Festung hinauf und dämpfte durch Magie sein inneres Feuer. Sturmlöwe sah ihm erwartungsvoll entgegen.
»Damit sind wir quitt«, keuchte Leones und warf ihm den Hirsch vor. Grollend, als müsste er die Beute verteidigen, schlug der Greif die Zähne in den Kadaver und zerrte ihn in eine ruhige Ecke. Ihm zuzusehen, hätte ihn nur noch mehr gereizt, deshalb ging Leones zum Badehaus, um sich zu waschen. Nachdem er den sichtbaren Dreck losgeworden war, befreite er sich mit Wasser, Salz und Rauch vom Hauch des Todes, der jedem erfolgreichen Jäger anhaftete. Zu diesem Zweck stand eine Schale mit Räucherwerk bereit. Die Grenzer töteten öfter, als unter Elfen erwünscht war, weshalb sie bei vielen kein hohes Ansehen genossen. Leones hatte sich daran gewöhnt, aber wenn er in der Heimat zu Besuch war, wurde er von einigen Leuten gemieden.
Erfrischt marschierte er über den Hof, wo Sturmlöwe mit blutverschmiertem Maul an seiner Mahlzeit zerrte. Es wurde Zeit, nach Danael zu sehen, bevor sein Kamerad glaubte, dass er ihm gleichgültig war. Als er sich dem Lazarett näherte, öffnete sich gerade die Tür. Bei seinem Anblick blieb Keatos auf der Schwelle stehen und musterte ihn mit hellen, graugrünen Augen. Leones wappnete sich gegen weitere Vorwürfe. Obwohl sie versuchten, es niemanden merken zu lassen, wusste jeder, dass Keatos und Danael ein Liebespaar waren. Leones fand dieses Versteckspiel albern, aber Liebeleien waren in der Wache nun einmal nicht erwünscht, weshalb alle so taten, als gäbe es sie nicht.
Da sich Keatos nicht rührte, blieb Leones vor ihm stehen. »Bist du auch krank?«, zog er ihn auf, obwohl Keatos’ Gesicht immer diesen Grünstich hatte.
Nachsichtig lächelte der Sohn Ameas. »Danael ist nicht krank, nicht einmal verwundet, und das verdankt er dir.« Unvermittelt reichte er Leones die Hand. »Er hat mir erzählt, wie du ihn gerettet hast. Dafür danke ich dir.«
Überrascht erwiderte Leones den festen Händedruck. »Das hätte doch jeder für einen Kameraden getan.«
»Das hoffen wir«, sagte Keatos, während er davonging. »Aber wir wissen es nicht.«
Wenn sich der Sohn Ameas bewegte, musste Leones stets an fließendes Wasser denken. Vielleicht lag es am Schimmern des silberblonden Haars, vielleicht auch an den seidigen Stoffen, aus denen seine Kleidung geschneidert war. Er wirkte weiblicher als Die Faust, doch neben der hageren Kriegerin sah fast jeder verweichlicht aus.
Achselzuckend wandte sich Leones ab und ging hinein. Danael saß aufrecht am Kopfende des Betts, wo jemand die Wand mit Kissen gepolstert hatte. Wasser und Obst standen in Reichweite, und es roch nach Kräutern und Tee. »Ah, Leones.« Der Sohn Heras schien sich wirklich zu freuen, ihn zu sehen. »Geht es dir gut?«
»Sollte ich das nicht fragen?«, gab Leones zurück.
Danael lächelte schief. »Die Faust hat mir von unserer … Landung erzählt. Ich hing mit meinem vollen Gewicht an deinem Arm. Der Ruck hätte dir die Schulter auskugeln können.«
Jetzt, da er darüber nachdachte, tat Leones die Schulter tatsächlich weh. Unwillkürlich bewegte er sie, um das Gefühl zu vertreiben. »Halb so schlimm.«
Danael nickte, sah aber nicht überzeugt aus. »Ich schulde dir was.«
Leones winkte ab. »Wir sind Grenzwächter. Wenn wir uns nicht gegenseitig den Hintern retten, wer dann?«
»Da ist was dran«, meinte Danael grinsend. Er schien darauf zu warten, dass Leones noch etwas sagte, doch Leones fiel nichts ein. Unbefangenes Plaudern gehörte nicht zu seinen Stärken.
»Der Erste hat mir eine Menge Fragen gestellt«, erzählte Danael schließlich.
Leones merkte auf. Erneut schien Danael auf etwas zu warten, das nicht geschah. Hatte Theremon offen über seine Anschuldigungen gesprochen? Hatte er gefragt, ob die Untoten Leones’ Werk waren?
»Ich habe ihm gesagt, dass dich keine Schuld am Verlust meines Greifs trifft. In den Sümpfen war es schon immer gefährlich.«
Leones nickte. Dass Danael ihn verteidigt hatte, freute ihn, doch an Theremons Feindseligkeiten würde es wohl nicht viel ändern. »Aber bislang gab es keine Wiedergänger.«
»Ich glaube, dass es Orks waren.«
»Orks?« Unwillkürlich sah Leones die Gestalten im Nebel wieder vor sich. Er hatte die groben, ungeschlachten Kerle für Menschen in Rüstungen gehalten, aufgeschwemmt und vom dunklen Moorwasser verfärbt. Selbst die Haut der theroischen Untoten war bräunlich gewesen, obwohl sie nur ausgetrocknet waren. Er schüttelte den Kopf. »Seit wann lauern Orks unter Wasser? Denk daran, wie lange sie Wildfang festgehalten haben. Ein Ork wäre längst ersoffen.«
»Ich rede von untoten Orks«, betonte Danael.
Leones erstarrte. War das möglich? Aber wenn sich Menschenleichen erhoben, warum dann nicht auch Orks? »Wahrscheinlich hast du recht. Du bist ein Sohn Heras. Du hast bessere Augen als ich.«
»Ich wünschte nur, ich hätte noch einen Greif, um der Sache auf den Grund zu gehen.« Echte Trauer um Wildfang huschte über Danaels Gesicht, bevor er Leones wieder ansah.
»Leones?« Die Faust warf einen suchenden Blick durch die Tür. »Du sollst alles für einen Spähflug vorbereiten«, richtete sie aus.
»Ich muss los«, sagte Leones.
»Pass auf dich auf!«, rief ihm Danael nach. »Und auf deinen Greif!«
* * *
»Gibt es einen Grund dafür, dass Ihr auf meinem Rücken auf und ab lauft wie eine Löwin im Käfig?«, erkundigte sich Akkamas. »Wenn Ihr so weitermacht, könnte ich dünnhäutig werden.«
»Entschuldigt, ich war in Gedanken«, antwortete Mahalea und blieb endlich stehen. Ihre Unruhe hatte auch an Athanors Geduld gezerrt, doch er wollte ihr mühsam errungenes Einvernehmen nicht für Kleinigkeiten riskieren. Allzu weit waren sie von Anvalon nicht mehr entfernt. In der Ferne ragten bereits die Berge auf, die wie ein Schutzwall wirkten und gegen den Giganten doch wirkungslos geblieben wären.
»Das Land verändert sich bereits«, sagte Mahalea wie zu sich selbst. »Obwohl das Ewige Licht erst vor zwei Tagen erloschen ist.«
»Was meint Ihr?« Athanor sah nur gewöhnlichen Wald.
»Die Bäume, sie verfärben sich.«
»Und das ist ungewöhnlich?« Herrschte in den Elfenlanden etwa ewiger Sommer, wie es die Legenden berichtet hatten?
»Es gibt immer ein paar Bäume, die sich in Herbstlaub kleiden, aber nie so viele und nie über Nacht. Wir haben so selten Schnee, dass sie ihre Blätter behalten. Sie werfen nur einen Teil ab – jedes Jahr an anderen Zweigen.«
»Und was hat das mit dem Ewigen Licht zu tun?«, erkundigte sich Akkamas.
»Aus dem Ewigen Licht strömte die Macht des Seins in unser Land. In seiner unmittelbaren Umgebung blühten die Pflanzen das ganze Jahr hindurch, und Früchte reiften selbst mitten im Winter …« Mahalea schien zu erschüttert, um weiterzusprechen.
Athanor begann zu begreifen, welche Schuld auf ihr lastete. Es war ihr nicht gelungen, die Katastrophe zu verhindern. Als Kommandantin hatte sie geschworen, die Elfenlande zu verteidigen, doch die Grenzwache war zu schwach, um diese Aufgabe zu erfüllen. Nun würden Schnee und Eis bei ihnen Einzug halten und die Gärten ihre überbordende Fruchtbarkeit verlieren.
»Man kann auch mit kahlen Bäumen und strengen Wintern überleben«, versicherte Athanor. »Wir Menschen haben das viele Jahrtausende lang getan.«
Mahalea warf ihm einen bitteren Blick zu. »Das ist es nicht allein. Auch wenn wir Heutigen vielleicht überleben können, wird es keine zukünftigen Generationen mehr geben. In ein paar Monden wird das letzte Kind geboren werden. Danach beginnt das Sterben.«
»Weil ihr glaubt, dass eure Seelen aus dem Ewigen Licht kamen?«, vergewisserte sich Akkamas.
»Wir glauben das nicht nur!«, fuhr Mahalea auf. »Es ist ein Kreislauf, der seit Anbeginn