Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
Flügeln sprang der Greif in den Abgrund. Von einem Augenblick auf den anderen zerrte Wind an Leones’ Haar und heulte ihm in den Ohren. Die Kräfte des freien Falls packten seinen Magen und drückten ihn nach oben. Unter ihm kam der steinige Hang so schnell näher, dass sein Herz raste. Er würde sich wohl niemals daran gewöhnen, wie Sturmlöwe absackte, bis eine passende Luftströmung ihren Fall bremste. Nie konnte Leones vorhersagen, wie lange es dauern würde. Es geschah einfach. Plötzlich schwebte der Greif, der Wind säuselte nur noch, und Leones’ Herzschlag beruhigte sich.
Sturmlöwe kreiste in den warmen Winden, um sich von ihnen wieder emportragen zu lassen. Höher und höher, bis selbst Nehora tief unter ihnen lag. Erst dann verlagerte Leones sein Gewicht, um den Greif nach Westen zu lenken. Die Sonne stand bereits so tief, dass sie ihn blendete, doch es blieb genug Zeit bei Tageslicht, um die ersten Ausläufer der Sümpfe zu erreichen. Schon bald hatten sie die gewellte, mit Wäldern gesprenkelte Landschaft überquert, die sich jenseits der Elfenlande erstreckte. Dahinter breitete sich die weite Ebene aus, durch die sich der Fallende Fluss wand. Schon aus der Ferne war der breite, metallisch glänzende Strom zu erkennen, der sich je nach Jahreszeit mal mehr, mal weniger träge durch die Sümpfe wälzte und weit im Süden ins Meer ergoss.
Bis zu seinen Ufern würden sie es heute nicht mehr schaffen. Die Aufwinde verloren bereits an Kraft. Immer öfter musste Sturmlöwe mit den Flügeln schlagen, um wieder Höhe zu gewinnen, bevor er weiter dahingleiten konnte. Leones entschied, dass sie sich weit genug von Nehora entfernt hatten, und begann mit der eigentlichen Suche. Falls ihnen die Angreifer gefolgt waren, konnten sie sich bereits in dieser Gegend befinden. Durch Gewichtsverlagerungen lenkte er Sturmlöwe in großen Schleifen nach Norden. Unter ihm wechselten sich Moore und Feuchtwiesen mit vereinzelten Hainen und Hecken ab, die im Licht der sinkenden Sonne immer längere Schatten warfen. So wachsam Leones auch hinunterspähte, aus dieser Höhe würde er keinen Untoten entdecken, der sich den Tag über zwischen Sträuchern und Bäumen verbarg. Sie mussten niedriger fliegen, auch wenn es den Greif mehr Kraft kostete und sie langsamer vorankamen.
Je mehr Höhe sie verloren, desto dunklere Ahnungen beschlichen Leones. Wenn sich dort unten Feinde versteckten, konnten sie aus der Deckung heraus auf Sturmlöwe schießen, und er war kein Sohn Heras. Er beherrschte keinen Zauber, um Pfeile abzulenken. Sie kamen aus dem Sumpf. Wahrscheinlich hatten sie viele Jahre unter Wasser gelegen. Keine Bogensehne war unter solchen Umständen noch brauchbar. Nur wenn es wirklich Untote sind … Er schob die Zweifel beiseite und konzentrierte sich auf die Suche, doch auf den Mooren und Wiesen entdeckte er nur grasendes Wild und Kraniche, die auf ihrem Zug nach Süden eine Rast einlegten. Ihre Schreie hallten gespenstisch durch den aufsteigenden Nebel.
Nach einer Weile befand Leones, dass sie weit genug nach Norden flogen waren, und kehrte um. Am Horizont versank die Sonne mattrot im Dunst. Dämmerung und Nebel legten sich wie ein Schleier übers Land und raubten Leones zunehmend die Sicht. Fluchend lenkte er Sturmlöwe niedriger. Noch kamen sie schneller voran als ein Reiter, doch der Greif musste ständig mit den Flügeln schlagen, was er unmöglich die ganze Nacht durchhalten konnte. Leones ließ ihn landen und ausruhen. Mit etwas Glück würde es im Lauf der Nacht aufklaren.
Sturmlöwe legte die Flügel an, rollte sich auf dem nassen Gras zusammen und schlief sofort ein. Sein Vertrauen rührte Leones. Der Greif wusste nichts von Lügen und Verrat. Während der Himmel immer dunklere Blautöne annahm, zog Leones ruhelos Kreise um seinen Freund. Vorsorglich nahm er den Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil auf. Die Stille des Moors glich jener vor dem Angriff auf Wildfang, doch Leones rief sich ins Gedächtnis, dass sie nicht ungewöhnlich war. Trotzdem zuckte er zusammen, als eine Eule vorbeiflog. Untote waren stumm. Und sie bewegten sich leise. Kein Geräusch durfte ihm entgehen. Wachsam streifte er durch das feuchte, hohe Gras, das seine Hosen durchnässte. Am Horizont hob sich die Mondsichel strahlend weiß aus dem Dunst. Es wurde Zeit, wieder aufzubrechen.
Gerade als er zu Sturmlöwe zurückgehen wollte, drang ein kaum hörbares Schleifen an sein Ohr. Lauschend erstarrte er. Langsam kam das Geräusch näher. In zackigem Takt wurde es lauter und leiser. Schritte! Und je länger er horchte, desto mehr gesellten sich nördlich und südlich von ihm hinzu. Wie von selbst trugen ihn seine Beine an Sturmlöwes Seite. Der Greif hatte den Kopf gehoben und nahm Witterung auf. Sein warnendes Grollen beseitigte jeden Zweifel.
»Weg hier!«, rief Leones gedämpft.
Sturmlöwe sprang bereits auf, während sich Leones noch auf seinen Rücken schwang. Dunkle Gestalten schälten sich aus dem Nebel. Eben noch waren sie stur geradeaus marschiert, doch plötzlich rissen sie Äxte und Klingen empor und rannten auf Sturmlöwe zu. Mit einem Satz katapultierte sich der Greif in die Luft. Leones schoss auf den vordersten Feind. Der Kerl war so nah, dass Leones die Hauer aus dem Unterkiefer des Orks ragen sah. Schon steckte der Pfeil tief in seiner Brust. Es störte ihn nicht. Er wirbelte herum und hackte unbeeindruckt nach Sturmlöwes Klauen, als der Greif über die Angreifer hinweg an Höhe gewann.
Leones sah nicht, ob der Hieb traf. Er konnte nur hoffen, dass Sturmlöwe das Bein schnell genug angezogen hatte. Unter ihm schrumpften die Gegner auf die Größe von Kindern. Drohend schwenkten sie ihre Waffen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Wiedergänger. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Aber woher kamen sie? In den fieberverseuchten Sümpfen lebten keine Orks. Und warum blieben sie nicht in ihren nassen Gräbern?
Rasch vergewisserte er sich, dass sie tatsächlich keine Bögen bei sich trugen. Einige stießen wütend Speere in die Luft, doch sie waren klug genug, ihre Waffen nicht zu verschwenden. Ein in die Höhe geschleuderter Speer besaß nicht genug Wucht, um einem Greif gefährlich zu werden. Leones ließ Sturmlöwe in sicherem Abstand über den Untoten kreisen, um ihre Anzahl zu schätzen. In der Dunkelheit mochte ihm der eine oder andere entgehen, aber der Nebel hatte begonnen, sich aufzulösen, und bot ihnen immer weniger Deckung. Nicht dass es sie gekümmert hätte. Ihnen lag offensichtlich nichts daran, sich zu verbergen. Sie starrten zu ihm herauf, die Gesichter in stummen Wutschreien verzerrt, und mit jedem Augenblick kamen von Westen neue Wiedergänger hinzu.
Nimmt das denn überhaupt kein Ende? Alarmiert lenkte er Sturmlöwe höher, um sich mehr Überblick zu verschaffen. Jenseits der Untoten, die ihn bemerkt hatten, stapften weitere Orks übers Moor. Leones zog einen größeren Kreis. Über trockeneren Stellen war der Nebel aufgerissen. Immer größere Lücken taten sich auf, und wo er auch hinsah, marschierten Untote gen Osten, auf die Elfenlande zu.
6
Auf Befehl des rothaarigen Anführers mit den goldenen Augen wurden die Dionier willkürlich auf die Schiffe verteilt. So fand sich Laurion mit Nemera, Rhea und Djefer auf dem fremden Boot wieder, das Ameahim der Grenzwache zur Verfügung gestellt hatte. Auch den gefesselten Krieger mit der kostbaren Rüstung stießen die Wächter zu ihnen an Bord. Nemeras Wunsch, nicht von Zofe und Leibwächter getrennt zu werden, hörte sich der Drachenäugige nicht einmal an. Stattdessen befahl er den Aufbruch und schwang sich auf seinem Greif in die Luft, von wo er alles im Blick haben würde. Nur wenige Grenzwächter blieben am Ufer, um neben dem Fluss herzureiten, und die reiterlosen Pferde folgten ihnen von selbst. Wenigstens hielt das Schiff der Amea-Krieger Abstand. Trotzdem blieb Laurion wachsam, denn wenn sie sich anders entschieden, konnten sie jederzeit aufholen. Doch das Beunruhigendste blieb der Gefangene, der sie hasserfüllt ansah.
Während Mahanael ihre Schiffe mit magischer Brise antrieb, war es ansonsten vollkommen windstill. Die Grenzwächter hatten nicht einmal ein Segel gesetzt. Offenbar waren auch sie nur Gäste auf dem Boot. Es befand sich zwar ein Abkömmling Ameas unter ihnen, doch die beiden Elfen, die das Schiff mit Wassermagie gegen den Strom schwimmen ließen, trugen weder Waffen noch Rüstungen. Ihre blauen Gewänder wiesen sie als Tochter und Sohn Ameas aus, und im Gegensatz zu den Grenzwächtern bewegten sie sich mit größter Selbstverständlichkeit auf dem Boot. Als die Tochter Ameas am Steuer saß, lächelte sie Laurion sogar zu. Er fand es tröstlich, dass nicht alle Elfen mitleidslos waren, und in seiner blutfleckigen Robe sah er bestimmt erbarmungswürdig aus.
Mahanaels Magie und damit der Wind versiegten gegen Abend, woraufhin Drachenauge einen Lagerplatz am Ufer auswählte. Schon entbrannte mit den Amea-Kriegern ein neuer kurzer Streit, weil sie darauf bestanden, auf derselben Seite des Flusses anzulegen. Da die Grenzwächter