Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
sie sich wieder dem erbitterten Streit im Rat zu. Sie nahmen an, dass sich Omeon auf dem Weg zurück nach Ardarea befand, wo er ein Haus und Verwandte besaß. Da er stets gekommen und gegangen war, ohne jemanden von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen, störte sich niemand daran.
Ungläubig schüttelte Athanor den Kopf. Hatte der Alte nur mit Orkzahn und ihm so eindringlich gesprochen? Warum hatte er sich noch nicht an den Erhabenen gewandt? »Nach allem, was er gesagt hat, kann er doch nicht abgereist sein, um seine letzten Abende am heimischen Herdfeuer zu genießen!«
»Nein, danach klang er in der Tat nicht«, stimmte ihm Akkamas zu. »Aber er verschwand erst, nachdem er vom Erlöschen des Ewigen Lichts erfahren hatte. Ich bin sicher, dass es einen Zusammenhang gibt.«
»Ohne den Oger sind wir besser dran«, brummte Orkzahn. »Er wäre uns irgendwann in den Rücken gefallen.«
»Du wirst deine Gründe haben, das zu glauben«, nahm Athanor an. »Trotzdem hätte ich gern erfahren, was er über diese Schamanengeschichte weiß.« Doch vielleicht bedeutete der Alte wirklich nur Ärger, wenn er sich schon jetzt als unzuverlässig erwies. »Zum Dunklen mit ihm! Wir haben genug zu tun.«
Sie saßen auf dem Rasen bei Orkzahns Schmorgrube, und Athanor rollte eine Landkarte zwischen ihnen aus. Peredin hatte sie ihm bringen lassen, damit er sich selbst ein Bild davon machen konnte, wo die Abkömmlinge Chions lebten – und wo sich demnach ein weiteres Ewiges Licht befinden musste. Die Karte war alt, aber sie stammte gewiss nicht mehr aus der Zeit des Zerwürfnisses mit den Abtrünnigen. Auch die Elfen fertigten ständig Abschriften alter Karten und Manuskripte an, damit kein Wissen verloren ging, nur weil die Originale über die Jahrtausende zerfielen.
»Sieht man da auch die Trollhügel?«, fragte Orkzahn.
Hatte jemals jemand einem Troll eine Landkarte gezeigt? Vermutlich nicht. »Ja, hier.« Athanor deutete auf das Gebiet östlich der Elfenlande und seiner Heimat. Wie klein Theroia daneben aussah. Ein unbedeutendes Königtum unter vielen, die sich zwischen den Gebirgen der Zwerge im Norden, den kargen Steppen des Westens, den Elfenlanden im Süden und den Trollhügeln im Osten zusammendrängten. »Die Karte zeigt die Zeit, bevor die Hochkönige Itharas die Menschenvölker zum Alten Reich vereinten.« Fasziniert fuhr Athanor mit dem Finger darüber und erklärte seinen Freunden, wo welches Land lag. Die ferne Vergangenheit ähnelte den Zuständen nach dem Zerfall des Alten Reichs, wie sie bis zum Feldzug Theroias und der Drachen angedauert hatten, aber damals hatte es noch mehr Fürstentümer der Menschen gegeben, als Athanor kannte.
Der größte Unterschied bestand jedoch darin, dass in den Menschenlanden elfische Siedlungen verzeichnet waren. Sie reichten gen Westen bis nach Ithara und nach Norden über Theroia und die Zwergenreiche hinaus. Es erinnerte Athanor daran, wie Elanya ihm in den Kerkern Firondils von dem alten Streit zwischen Elfen und Zwergen um den Berg Gorgon erzählt hatte. In jenen Tagen waren die beiden Völker Nachbarn gewesen, und einige Elfen hatten in Eintracht mit den Theroiern gelebt. So weit konnte er die Angaben der Karte nachvollziehen, aber darüber hinaus …
»Entweder führen alle Legenden über den eisigen Norden in die Irre, oder es herrschte damals noch keine Kälte dort«, rätselte er. Jenseits der Gebirge zeigte die Karte eindeutig Elfenstädte und Wälder. Ein Fluss wand sich durch diese Landschaft und mündete weit im Norden in ein Meer.
»Das ist möglich«, meinte Akkamas. »Auch Dion war nicht immer eine Wüste. Im zweiten Zeitalter galt es meinen Ahnen als blühendes Land, wo das Wild so zahlreich war wie an keinem anderen Ort Ardaias.«
Athanor vermochte es sich nicht vorzustellen, aber auch der Sphinx hatte davon gesprochen, und die Überlieferungen der Drachen und Elfen waren sicher zuverlässiger als Trolllegenden über allmächtige Steine. »Selbst wenn diese Karte stimmt, müssen die Städte längst aufgegeben worden sein. Nach allem, was ich je über den Norden gehört habe, liegt dort sogar im Sommer noch Schnee.«
Orkzahn nickte. »Das weiß doch jedes Kind.«
»Aber sie haben ein Ewiges Licht.« Akkamas tippte auf eine Stelle, die eine strahlende Kugel zeigte. Es war ein kleines Symbol, so versteckt, dass Athanor es übersehen hatte, doch es war da. Dorthin wollte der Erhabene sein Volk führen.
»Du meinst, dass es dieselben Auswirkungen hat wie hier?« Athanors Blick schweifte von selbst zu den Bäumen empor, deren Laub über Nacht begonnen hatte, sich zu verfärben.
»Ich verstehe nicht viel von euren Jahreszeiten«, gab Akkamas zu. »Bei uns bedeutet Winter nur, dass es an der Küste ab und zu regnet. Und wir wissen, dass er vorbei ist, wenn das Mekathochwasser aus den Donnerbergen herabkommt.«
»Bei uns wird der Winter länger und kälter, je weiter man nach Norden reist«, erklärte Athanor. »Selbst wenn er um dieses Ewige Licht herum milder ausfällt, könnte er immer noch härter sein als in meiner Heimat.«
Skeptisch blickte Akkamas auf die Karte. »Dann kann ich verstehen, dass sich viele gegen Peredins Plan stemmen. Wie soll ein Volk in Eis und Schnee überleben?«
»Das müssen sie selbst herausfinden.« Athanor verhärtete sein Herz gegen das aufkeimende Mitleid. Sie hatten nicht eingegriffen, als sein Volk von den Drachen vernichtet worden war. »Wir haben genug eigene Schwierigkeiten. Aber wenn sie tatsächlich nach Norden ziehen, durchqueren sie meine Heimat. Dann werden wir sie mit den Flüchtlingen begleiten, bis …« Mit dem Finger fuhr er die ungefähre Route entlang und hielt am Sarmander inne. »Bis sich unsere Wege in Theroia trennen.«
Als er es mit so großer Entschiedenheit aussprach, kamen ihm Zweifel. Er hatte geplant, die Flüchtlinge nach Theroia zu führen, falls es ihm gelang, den Drachen zu entkommen. Doch damals hatte er nicht geahnt, dass auch hier wieder Krieg herrschte. Ein Krieg, der mit unerwarteten Mitteln geführt wurde, von denen er viel zu wenig verstand. Er wusste nicht, welche Schrecken die nächste Nacht, der nächste Morgen bringen würde. Er wusste nur, dass dieser Kampf längst nicht ausgestanden war. Wie konnte er hoffen, sich mit den Dioniern in Theroia anzusiedeln, solange die Sonne jeden Tag mehr hinter diesem Dunstschleier verschwand? Solange sich untote Giganten erhoben, um ganze Völker auszulöschen? Hadons Fluch! Er musste etwas unternehmen.
7
Ratssitzungen waren Mahalea stets ein Gräuel gewesen, doch diese übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Sie hatte damit gerechnet, dass man ihr scharfe Fragen stellen und Vorhaltungen machen würde. Als Kommandantin trug sie die Verantwortung dafür, dass die Grenzwache den Giganten nicht früher bemerkt und aufgehalten hatte. Daran gab es nichts zu rütteln. Obwohl es nicht an ihren Fähigkeiten, sondern der geringen Truppenstärke und dem völligen Fehlen von Grenzposten entlang der Küste gelegen hatte, lastete diese Schuld schwer auf ihren Schultern. Aber das Ausmaß an Zorn und irrwitzigen Vorwürfen, das ihr seit Beginn dieser Sitzung entgegenschlug, traf sie unerwartet hart. Selbst aus den Reihen der Abkömmlinge Heras ertönten verletzende Zwischenrufe, wann immer sie angesprochen wurde oder das Wort ergriff. Dabei ging es längst nicht mehr um das tragische Erlöschen des Ewigen Lichts, sondern um Astarions Vorschlag, nach Norden zu ziehen, den der Erhabene unterstützte.
»Wie kann von einer sicheren Reise für mein ganzes Volk die Rede sein, wenn uns dieselben Versager beschützen sollen, die schon unsere Heimat nicht verteidigen konnten?«, stichelte Therianad, der oberste Ratsherr der Abkömmlinge Ameas.
»Wollt Ihr darauf antworten?«, fragte Peredin Mahalea. »Ich weise noch einmal darauf hin, dass jeder das Recht hat, unangemessen formulierte Äußerungen zurückzuweisen.«
In Mahalea regte sich Trotz. Alle, die sie so hart angingen, hatten sich nie zuvor für die Belange der Grenzwache interessiert. Stets war sie als lästige Mahnerin gemieden worden, weil sie darauf hingewiesen hatte, wie gefährlich unterbesetzt die Grenzposten waren. Selbst ihre eigene Tante, die ermordete Erhabene Ivanara, hatte ihre Warnungen stets ignoriert. Und jetzt spielten sich dieselben Ratsmitglieder als Richter über sie auf. Es reicht! »Ich werde antworten«, erwiderte sie und stand auf, um bis in die hintersten Reihen gehört zu werden. »Ich habe dazu nur zwei Dinge zu sagen. Seit mein Vater im Krieg gegen die Trolle starb, kreisten meine Gedanken stets nur um das Wohl und die Sicherheit unserer vier Völker.