Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk

Athanor 4: Die letzte Schlacht - David  Falk


Скачать книгу
wurden wieder empörte Stimmen laut, doch Peredin gebot mit energischer Geste Schweigen, was zumindest einige der Nörgler verstummen ließ.

      »Schon lange bevor ich Kommandantin wurde, habe ich in diesem Rat eindringlich vor den Schwächen unserer Verteidigung gewarnt. Wieder und wieder! Deshalb muss ich als Zweites sagen: Nicht die Grenzwache hat versagt, sondern dieser Rat – der ihr seit Jahrhunderten die Mittel verweigert, um für unsere Sicherheit zu sorgen!«

      Mahalea setzte sich, ohne dem ausbrechenden Tumult zu lauschen. Sie nahm den geifernden Ton der Stimmen und die Lautstärke des Gebrülls wahr, doch sie achtete nicht auf die Demütigungen, die den aufgebrachten Ratsmitgliedern über die Lippen kamen. Sicher forderten sie jetzt ihren Rücktritt, aber so leicht würde sie es ihnen nicht machen. Wenn sie sie bestrafen wollten, mussten sie ihr den Posten schon durch Amtsenthebung entreißen. Bei dem Gedanken stahl sich ein verächtliches Lächeln in ihr Gesicht, das die Eiferer noch weiter anstacheln würde. Eine Amtsenthebung des Kommandanten hatte es noch nie gegeben, aber für das Erlöschen des Ewigen Lichts konnte man sie als angemessen betrachten. Sollte doch Therianad den Befehl über die Grenzwache übernehmen, wenn er sich dazu für befähigt hielt.

      Astarion schien ähnliche Gedanken zu hegen, doch Mahalea hörte ihren Ältesten erst, als er sich zu ihr herüberbeugte und sie am Arm berührte. »Ich erwäge vorzuschlagen, die Grenzwache hier in den Elfenlanden zurückzulassen«, rief er ihr zu, um den Aufruhr zu übertönen. »Würdet Ihr dem zustimmen und eine neue Wache anführen, die uns auf der Reise verteidigt?«

      Es klang verlockend. Wenn ihnen ohnehin keine andere Wahl blieb, als die Heimat zu verlassen, konnten sie die Grenzwache ebenso gut auflösen. Aber eine Spaltung? »Sind wir schon so weit, die Einheit unserer Völker aufzugeben?«

      In Astarions blassblauen Augen spiegelte sich ihr eigener Schmerz, ihre Enttäuschung darüber, keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Doch sie sah auch die Entschlossenheit darin, den unbedingten Willen, sich nicht in ihr Schicksal als sterbendes Volk zu fügen. »Wir Abkömmlinge Heras waren stets die kühnsten Denker unter den Elfen. Unsere Gedanken sind frei und beweglich wie der Wind. Es ist unsere Pflicht, das Neue zu wagen, wo die anderen beharren wollen.«

      Mahalea nickte. Nur am Rande nahm sie wahr, dass es in der Halle stiller wurde. Wenn es zu einer Spaltung kam, würden ihr die meisten Grenzwächter folgen. »Aber der Hohe Rat muss zustimmen, dass es sich um eine freie Gewissensentscheidung handelt«, forderte sie. »Niemand darf sich dazu verpflichtet fühlen, hier zu bleiben, nur weil er der Grenzwache angehört. Sonst stürzen wir meine Leute in ein noch schlimmeres Dilemma.«

      »Ich verstehe«, versicherte Astarion. »Es untergräbt zwar das Gewicht unseres Zugeständnisses, aber ich werde dafür sorgen, dass am Ende eine freie Entscheidung steht. Der Dienst in der Wache war seit jeher freiwillig. Daran soll sich auch …«

      Allmählich schlich sich in Mahaleas Bewusstsein, dass sich die Stimmung im Ratssaal verändert hatte. Die zornigen Töne waren aufgeregten und furchtsamen gewichen. Viele waren verstummt, andere flüsterten. Aus dem Tuscheln und Raunen schälte sich das Schaben schwerfälliger Schritte heraus. Kälte streifte Mahalea und legte sich wie Schnee auf ihre Haut. Im gleichen Augenblick bemerkte sie die Gestalten, die sich durch die Reihen der Ratsmitglieder bewegten.

      Vier Elfen – drei Männer und eine Frau – schritten auf einem der Gänge zwischen den Sitzen in die Mitte der Halle. Es war ungewöhnlich genug, dass jemand durch Herumlaufen die Ratssitzung störte, aber noch merkwürdiger war, dass der Erhabene keinen Einspruch erhob. Stattdessen starrte Peredin die Neuankömmlinge mit geweiteten Augen an. Gebannt beobachtete Mahalea, wie sie zwischen dem kleinen Springbrunnen im Zentrum und dem Sitz des Erhabenen Aufstellung nahmen. Allen vier hing altes Laub im ungekämmten Haar. Ihre Gewänder waren verdreckt, zerrissen und mit längst getrocknetem Blut befleckt. Selbst ihre fahle Haut hätte sich vielleicht noch anders erklären lassen, doch was sie unzweifelhaft als Leichen auswies, waren die Wunden, aus denen kein Blut lief. Raben und Krähen hatten an ihren Gesichtern gepickt und tiefe Löcher hinterlassen. Woran der Sohn Heras, den sein Waffenrock aus Rohseide verriet, gestorben war, vermochte Mahalea nicht zu erkennen. Der Unterkiefer des Sohns Ameas bestand dagegen nur noch aus zermatschtem Fleisch und Knochentrümmern. Bei der Tochter Piriths verdeckte das graue Gewand die Wunden, doch von der Taille abwärts war es mit großen, bräunlichen Flecken bedeckt, die Übles darunter erahnen ließen. Vielleicht war sie ebenso unter einen Fuß des Giganten geraten wie ihr Verwandter in der rot lackierten Rüstung. Sein Brustkorb war so flach, dass bei dem Anblick auch Mahaleas Atem stockte. Lugten nicht sogar gesplitterte Rippen aus der beschädigten Rüstung?

      Gespenstische Stille legte sich über die Versammelten. Vor Theroia hatte Mahalea genug Untote gesehen, um gefasster als die meisten anderen zu reagieren, doch jene Wiedergänger waren Menschen gewesen und alte, ausgetrocknete Leichen dazu. Der Troll hat uns gewarnt. Nun erhoben sich auch tote Elfen. Zu welchem Zweck? Als Kommandantin war sie die Einzige mit einer Waffe im Saal und tastete nach dem Schwertgriff.

      Endlich fand der Erhabene seine Stimme wieder. »Wir alle sind Zeugen eines denkwürdigen Tages in der Geschichte dieser Halle. Nie zuvor sind unsere Toten aufgestanden, um vor den Rat zu treten.«

      Und niemand hat diesen Tag erleben wollen, ergänzte Mahalea im Stillen. Dass sich Peredin weder Abscheu noch Furcht anmerken ließ, bewunderte sie umso mehr.

      »Ich frage mich jedoch, weshalb ihr hergekommen seid«, fuhr der Erhabene fort. »Welches Anliegen wollt ihr vortragen? Oder wurde euch aufgetragen, uns eine Botschaft zu überbringen? Und wie soll dies geschehen? Mir wurde berichtet, dass ihr nicht sprechen könnt.«

      Der Sohn Heras, der sie anführte, nickte stumm.

      Erneut herrschte einen Moment lang Schweigen, dann erhob sich einer der Schriftführer, deren Aufgabe es war, möglichst viel des Gesagten wortwörtlich festzuhalten, damit in späteren Sitzungen darauf zurückgegriffen werden konnte. Zögernd hob er Feder und Papier. »Vielleicht können sie schreiben?«

      Fragend sah Peredin die Wiedergänger an. Der Sohn Heras trat vor und beugte sich mit der Feder über ein Pult. Noch immer war es so leise, dass das Kratzen des Gänsekiels im Saal widerhallte. Die Bewegungen des Toten wirkten steif und linkisch, doch es gelang ihm offenbar, leserlich zu schreiben, denn als er das Blatt dem Schriftführer reichte, verkündete jener: »Wir können das Ewige Licht nicht finden.«

      Kurz schloss Mahalea die Augen. Es ist also wahr. Die Seelen gingen nach dem Tod ins Ewige Licht, doch nun war es nicht mehr da, und sie würden suchend umherirren – bis sie ein Seelenjäger fand. Überall in der Halle flüsterten sie es sich zu. Sie hatten versagt. Die Grenzwache. Der Hohe Rat. Sie alle.

      Wir werden ein Land der Toten, die nicht wissen, wohin. Sie konnten nicht bleiben. »Wir müssen sie nach Norden führen«, sagte sie mehr zu sich selbst, doch die Umsitzenden hörten es.

      Überrascht hob Astarion die blonden Brauen. »Auch die Toten?«

      Alle vier Wiedergänger wandten sich ihnen zu.

      Mahalea nickte. »Zählt nicht jede einzelne Seele, die wir retten können?«

      * * *

      Wann immer Ameathar zwischen den Bäumen am Ufer auftauchte, behielt Laurion den Gefangenen beunruhigt im Auge. Angeblich stellte er auf diese Entfernung keine Gefahr dar, aber Laurion hätte ihn lieber in Bleihandschellen gesehen. Nichts hinderte einen Magier verlässlicher am Zaubern. Doch es war nicht Aufgabe der Grenzwächter, Elfen zu jagen, weshalb sie für solche Fälle keine Ausrüstung besaßen. Sie hatten sich damit beholfen, ihn auf einem Pferd festzubinden, sodass er den Menschen nicht mehr zu nahe kam.

      Nemera folgte Laurions Blick. »Der Urmutter sei Dank, dass er nicht mehr bei uns auf dem Boot ist.«

      Laurion nickte, aber es fiel ihm schwer, den Maßnahmen der Elfen zu vertrauen. »Ich hoffe nur, dass er nicht entkommt, indem er seinen Bewachern dasselbe antut wie Otreus.«

      »Müsst Ihr Euch immer das Schlimmste ausmalen?«, beklagte sich Nemera schaudernd.

      »Ihr müsst mir versprechen – du auch, Rhea –, dass Ihr


Скачать книгу