Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk
sah Nemera ihm nach. »Das gefällt mir nicht. Dieser Ameahim ist zornig auf ihn, weil er uns hergebracht hat. Sagte er nicht, dass er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen will?«
Laurion nickte. Es war mutig von Mahanael, den Elfenfürsten noch einmal aufzusuchen, aber …
»Darf er die Insel überhaupt verlassen?«, fragte Nemeras Zofe. »Er wurde bei dem Verbot nicht ausgenommen, oder?«
Vergeblich versuchte Laurion, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. War ausdrücklich von Menschen die Rede gewesen? »Ich fürchte nicht.« Brachte Mahanael nicht nur sich selbst, sondern sie alle in Gefahr? Laurion sprang auf. Wenn er sich beeilte, konnte er den Elf noch einholen. »Ich werde ihn aufhalten.«
»Aber seid vorsichtig!«, rief Nemera ihm nach.
Das habe ich vor. Solange er Mahanael fand, bevor er die Insel verlassen hatte, würde ihnen hoffentlich nichts geschehen. Doch leider wurde es mit jedem Augenblick dunkler, und Laurion verstand ohnehin nichts vom Fährtenlesen. Selbst eine Fackel hätte ihm daher wenig genutzt. Hastig stolperte er durch die Finsternis. Dornige Ranken schienen nach seinen Füßen zu angeln und rissen an seiner Robe. Wo befand sich die vermaledeite Brücke? Lief er noch in die Richtung, die Mahanael eingeschlagen hatte?
Vor ihm wurde es heller. Die Bäume wichen einer Lichtung, die von Schilf und Gesträuch umgeben war. Wo die Schilfgräser wuchsen, musste das Ufer sein. Wenn er dort entlanglief, würde er irgendwann auf die Brücke stoßen. Aber der schnellste Weg war es wahrscheinlich nicht. »Mahanael?«, rief er leise. Nur ein Rascheln im Gebüsch antwortete ihm.
Nicht trödeln! Wenn er schon den längeren Weg nehmen musste, galt es, umso schneller zu sein. Mit dem Lärm eines zornigen Büffels brach er durchs Gestrüpp. Manchmal geriet er ins Schilf, dessen scharfe Blätter in seine Füße schnitten, und schon im nächsten Moment versank er bis zu den Knöcheln in Schlamm und hastete auf trockenen Grund zurück. Wie groß war die verfluchte Insel eigentlich?
Ständig musste er auf den Boden achten, um nicht in einem Sumpfloch zu landen. Als er wieder einmal aufblickte, leuchtete zwischen den Halmen fernes Licht. War er womöglich im Kreis gelaufen?
Laurion reckte sich, um übers mannshohe Schilf zu spähen. Der flackernde Schein mehrerer Fackeln bewegte sich durch die Dunkelheit und spiegelte sich auf dem Wasser. Wer auch immer sie trug, kam näher. Vorsichtig eilte Laurion weiter. Schon konnte er Gestalten ausmachen, die über eine schmale Brücke schritten. Viele Gestalten. Und im Fackellicht glänzten Speerspitzen auf. Laurion erstarrte.
»Was habt ihr vor?« Erst die anklagende Stimme machte ihn auf den einzelnen Elf aufmerksam, der am Ende der Brücke stand. Mahanael.
»Wir werden die Menschen töten«, antwortete der vorderste Fremde. Auch er trug eine Fackel und hielt eines der gebogenen Schwerter in der Hand.
»Sie haben nicht gegen die Vereinbarung verstoßen«, protestierte Mahanael.
»Die Lage hat sich geändert«, gab der Schwertträger zurück. Er hatte Mahanael fast erreicht und hielt an. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen. Offenbar fürchtete er, dass die Dionier im Dickicht lauerten. Laurion verwünschte seine weiße Robe und webte einen Zauber. Ich bin nur das Schilf. Ihr seht mich nicht, weil ich Schilf bin.
»Das Ewige Licht wurde zerstört!«, rief der Schwertträger wütend. »Diese Menschen bringen nichts als Unglück über uns!«
»Wie können sie das Ewige Licht zerstört haben? Sie waren doch die ganze Zeit hier«, hielt Mahanael dagegen. Doch seine Stimme klang unsicher. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die Worte getroffen.
»Erst haben sie die Flutwelle gesandt, dann den Riesen«, schimpfte jemand.
»Sie wollen uns auslöschen!«, brüllte ein anderer.
Die aufgebrachten Elfen setzten sich wieder in Bewegung. Mit begütigend erhobenen Händen wich Mahanael zurück. »Ich lebe seit Monden bei ihnen. Sie sind unsere Freunde.«
»Du solltest dich schämen, Verräter!« Der Schwertträger schwang die Fackel nach ihm.
»Menschen sind tückisch«, tönte eine Kriegerin mit Schild und Speer. »Wir müssen sie töten, bevor sie uns im Schlaf ermorden!«
Unter aufgebrachten Rufen schob die Menge Mahanael von der Brücke. Am Ufer drängte sie sich um den Anführer und ihn.
»Wir schützen auch dich, du Narr!«, blaffte irgendjemand.
»Kein Elf darf mehr sterben, sonst ist seine Seele verloren!«
Laurion zitterte. Wovon sprachen sie da nur? Warum glaubten sie so fest daran, dass alle Menschen ihre Feinde waren? Er musste die anderen warnen. Für eine Flucht blieb kaum noch Zeit. Und wie sollten sie ohne Mahanael entkommen? Hin- und hergerissen starrte er auf die wütende Meute. Plötzlich zog sie weiter, und eine Gestalt blieb am Boden zurück. Mahanael!
Laurion rannte los, ohne auf das Knacken und Rascheln zu achten, mit dem er durch Ried und Büsche brach. War der Elf etwa tot? Was sollten sie dann tun? Barmherzige Urmutter, hilf! Atemlos ließ er sich neben Mahanael fallen und tätschelte ihm die Wange. »Wach auf!«
Aus dem sonnengebleichten Haar sickerte Blut. Offenbar hatte ihn jemand hinterrücks niedergeschlagen. Diese elenden Schweine! Laurion sprang wieder auf und hetzte ans Wasser. Mit den Händen formte er eine Schale, doch sie fasste erbärmlich wenig. Kurz entschlossen tauchte er die Arme bis über die Ellbogen unter. Blitzschnell saugte sich der Stoff seiner Robe voll. Er lief zu Mahanael zurück, ließ das kalte Wasser auf dessen Gesicht rinnen und wrang einen weiteren Schwung aus den Ärmeln heraus. Blinzelnd kam Mahanael zu sich.
»Komm!«, schrie Laurion und zerrte den benommenen Elf auf die Füße. »Sie werden alle umbringen!«
Bei der Erinnerung riss Mahanael die Augen auf.
»Komm schon!«
»Warte! Ich weiß einen besseren Weg.«
»Welchen denn?« Sah er denn nicht, wie viel Vorsprung die Feinde hatten?
»Du kannst sie überholen, aber du wirst nicht schnell genug sein, um die Schiffe rechtzeitig ins Wasser zu bringen. Vertrau mir!«
Die Umrisse des Elfs verschwammen vor Laurions Augen, schrumpften und verwandelten sich. Im nächsten Moment stieß sich ein weißer Vogel vom Boden ab. Vor Ehrfurcht stand Laurion wie versteinert. Das ist wahre Magie! Beinahe lautlos schwang sich das Tier in den Nachthimmel hinauf. Gegen den Vogel bewegten sich die anderen langsam. Und ich stehe immer noch hier herum! Aufgeschreckt rannte Laurion los. Im Gegensatz zu ihm kannten die Elfen die Richtung. Für den Umweg am Ufer blieb keine Zeit. Er musste ihnen folgen, bis er allein weiterkam. Zwischen den Bäumen konnte er den Schein der Fackeln noch sehen und holte rasch auf.
Sobald er näher kam, zuckte er bei jedem knackenden Zweig zusammen. Mahanael hatte ihn zwar nur gesehen, weil er sich bemerkbar gemacht hatte, doch sicherheitshalber verstärkte Laurion seinen Zauber. Ihr seht mich nicht. Ich verschmelze mit der Nacht. Gerade rechtzeitig, denn schon blickte jemand argwöhnisch über die Schulter. Du siehst mich nicht. Ich bin der Schatten des Waldes, das finstere Gestrüpp, die Dunkelheit zwischen den Sternen.
In entschlossenem Schweigen marschierten die Elfen voran. Nur das Rascheln ihrer Schritte störte die Stille. Für Laurion klang es wie ein Messer am Schleifstein. Zügig überquerten sie eine kleine Lichtung. Im Fackellicht glaubte Laurion, einen alten Baum zu erkennen. Hier war er mit Rhea vorübergekommen.
Jetzt! Laurion stürmte los und schlug sich seitlich in die Büsche. Wie er durchs Unterholz brach, war unüberhörbar. Alarmierte Rufe ertönten. »Da bewegt sich was!«
Laurion konnte nicht verhindern, dass Zweige förmlich einladend winkten. Mit leisem Knall schlug vor ihm ein Pfeil in einen Baum. Er rannte noch schneller. Gleich hatte er die Mörderbande hinter sich. Wenn er aus dem Fackellicht verschwand, würden sie kein wackelndes Laub mehr sehen. So plötzlich fuhr neben ihm ein Speer in den Boden, dass er vor Schreck fast gegen einen Baumstamm