Parodontologie von A bis Z. Peter Eickholz
Abb. 1a bis d Parodontitis: a) Mann im Alter von 52 Jahren, Parodontitis, generalisiertes Stadium III, Grad C10: klinische Ansicht (Zahnfehlstellungen im Ober- und Unterkieferfrontzahnbereich, 31 Zahnstein); b) Röntgenstatus zu Abb. 1a: generalisierter überwiegend horizontaler Knochenabbau unterschiedlichen Ausmaßes (bis ins koronale Wurzeldrittel: 15–13, 23, 37–33, 43–47 [bis 33 % der Wurzellänge]; mittlere Wurzeldrittel: 17, 16, 12–22, 24–27, 32–42 [> 33 % der Wurzellänge]; auch am gleichen Zahn (z. B. 36); c) Frau im Alter von 24 Jahren: Parodontitis, generalisiert Stadium III, Grad C10; d) Panoramaschichtaufnahme zu Abb. 1c: Während sich an den Seitenzähnen des 2. Quadranten praktisch kein Knochenabbau findet, weisen andere Zähne Knochenabbau bis ins apikale Wurzeldrittel auf (z. B. 13, 33).
Abb. 2 Fortgeschrittene Läsion (Parodontitis): Die Bilder der etablierten und fortgeschrittenen Läsion gleichen sich mit dem Unterschied, dass es bei der fortgeschrittenen Läsion bereits zu Attachmentverlusten bzw. Knochenabbau gekommen ist, während dies bei der etablierten Läsion noch nicht der Fall ist. Die Menge der Entzündungsmediatoren im Gewebe nimmt zu. Es finden sich vermehrt Plasmazellen. MonozytenChemotaxis-Protein (MCP), Makrophagen-inflammatorisches Protein (MIP), RANTES („regulated on activation, normal T-cell expressed and secreted“), transformierender Wachstumsfaktor β (TGF-β), Interferon γ (IFN-γ), neutrophile segmentkernige Granulozyten (PMN), Leukotriene (LT), Immunglobulin G (IgG), Interleukin-1-Rezeptorantagonist (IL-1ra) (modifiziert nach Kornman4).
Ein hoher Anteil von Plasmazellen im entzündlichen Infiltrat scheint ein Hinweis auf eine aktive Läsion bzw. eine Verschiebung des Gleichgewichts in der Läsion von protektiven (Resolution der Entzündung) zu destruktiven Prozessen (chronische Entzündung ohne Resolution) zu sein7. Plasmazellen produzieren Antikörper. Es müssen also bakterielle Antigene von Makrophagen im körpereigenen Gewebe phagozytiert und entsprechend präsentiert worden sein. Bakterien konnten also in großer Zahl ins Gewebe eindringen: „Die Dämme sind gebrochen.“
Parodontitis ist die entzündliche, durch bakterielle Beläge verursachte Erkrankung aller Anteile des Parodonts, d. h. der Gingiva, des Desmodonts, des Wurzelzementes und des Alveolarknochens, mit fortschreitendem Verlust von Stützgewebe. Die Erkrankung kann sich an einzelnen, mehreren oder an allen Zähnen manifestieren. Dabei können unterschiedliche Stadien der Erkrankung beim gleichen Patienten oder am gleichen Zahn (s. Abb. 1b und d) gleichzeitig vorliegen. Parodontitis verläuft schubweise. Schweregrad und Verlauf können durch weitere Faktoren (z. B. anatomisch, funktionell, systemisch) beeinflusst werden8. Die Zerstörung des Zahnhalteapparates durch Parodontitis ist kein kontinuierlicher Prozess, sondern geprägt von Phasen der Aktivität mit Exazerbation der Entzündung und Schüben knöcherner Resorption und solchen der Inaktivität oder Ruhe, während derer ein Gleichgewicht zwischen Noxen und Wirtsabwehr zu bestehen scheint und sich resorptive und regenerative Prozesse die Waage halten (Abb. 3)9. Auch in einer parodontalen Läsion existieren Knochenformation und -resorption nebeneinander, nur dass die resorptiven Prozesse überwiegen und es in der Gesamtheit zu einem Abbau des alveolären Knochens kommt. Ein grundlegendes Ziel parodontaler Therapie ist es daher, den dysbiotischen Biofilm als Auslöser der chronischen Entzündung zu beseitigen oder zumindest deutlich zu reduzieren, um ein Dominieren kollagen- und knochenbildender Prozesse zu ermöglichen (Resolution)6.
Abb. 3 Kritischer-Verlauf-Pathogenesemodell der Parodontitis: Ineffektive Plaquekontrolle oder eine exogene Infektion transformieren die normale (Symbiose: 1) zu einer pathogenen Flora (Dysbiose: 2). Gelingt es den neutrophilen Granulozyten, diese Flora in Schach zu halten (neutrophile Clearance; 3), bleibt es bei Gingivitis. Können die Granulozyten die pathogene Flora nicht abwehren (z. B. Granulozytendysfunktion oder virulente Mikroorganismen überwinden diese Barriere), penetrieren Bakterien ins Gewebe (4). Damit ist die Grenze von der Gingivitis zur Parodontitis überschritten. Im lymphozytären Infiltrat, in dem bisher T-Zellen dominierten, reichern sich nun B-Zellen und Antikörper bildende Plasmazellen an (5). Gelingt es dem Organismus, genug protektive Antikörper zu produzieren, um die Mikroorganismen abzuwehren, bleibt die Zerstörung begrenzt. Die monozytäre/lymphozytäre Reaktion bestimmt, ob die über Zytokine vermittelten immunologischen und entzündlichen Prozesse primär protektiv oder destruktiv ablaufen (6) (nach Salvi9).
Welche Faktoren begünstigen die Entgleisung der entzündlichen Infektabwehr?
Warum geht eine durch bakterielle Plaque induzierte Gingivitis bei manchen Menschen früher, z. T. schon in jugendlichem Alter, bei anderen später oder aber bei manchen Individuen nie in eine Parodontitis über3,10? Die entzündliche Reaktion der Gingiva ist ein Schutzmechanismus: Sie soll verhindern, dass Mikroorganismen an der Schwachstelle der Körperhülle, die die Durchtrittsstelle der Zähne durch die Mundschleimhaut darstellt, ins Körperinnere (Blut, Bindegewebe, Knochen) eindringen. Diese Entzündungsreaktion ist hochkomplex1,4 und deshalb anfällig für Störungen insbesondere dann, wenn sie über Monate und Jahre aufrechterhalten werden muss. Welche Einflüsse bewirken eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Noxen und Wirtsabwehr, zwischen protektiven (angemessene Immunantwort) und destruktiven (unangemessene Immunantwort) Prozessen? Zum einen spielt hier eine spezifische dysbiotische bakterielle Plaque eine wesentliche Rolle, die dazu in der Lage ist, zentrale Funktionen der wirtseigenen Abwehr außer Kraft zu setzen. Subgingivale Biofilme von spezifischer Zusammensetzung können die Funktion der neutrophilen Granulozyten, z. B. durch die Freisetzung von Leukotoxin oder die Produktion von kurzkettigen Fettsäuren bzw. Polyaminen, die für neutrophile Granulozyten toxisch sind, beeinträchtigen6. Bakterielle Plaque ist der Auslöser und ätiologischer Hauptfaktor entzündlicher Parodontalerkrankungen3, der entzündliche und immunologische Prozesse in Gang setzt, die zu einer klinisch manifesten Gingivitis führen, wenn das Parodont lange genug viel Biofilm ausgesetzt ist (Abb. 4). Daneben existieren zahlreiche lokale und systemische Ko- bzw. Risikofaktoren (Tab. 1), die auf die immunologische und entzündliche Wirtsantwort sowie den Bindegewebs- und Knochenstoffwechsel einwirken und so im Spannungsfeld von Exposition und Disposition den Verlauf von Gingivitis und Parodontitis sowie deren Geschwindigkeit kausal beeinflussen (Abb. 4). Der multifaktorielle Charakter und damit die Komplexität der Ätiologie und Pathogenese der Parodontitis erschwert die Identifikation von parodontalpathogenen Mikroorganismen und Risikofaktoren.
Abb. 4 Pathogenese von Gingivitis und Parodontitis nach Meyle & Chapple11, das sich aus dem klassischen Modell von Page & Kornman12 entwickelt hat. Wenn der Biofilm auf den Zähnen nicht regelmäßig entfernt bzw. zerstört wird, entwickelt sich eine Dysbiose, die einen chronischen und destruktiven Entzündungsprozess auslöst und aufrechterhält (AMP: antimikrobielle Peptide; DAMP: Damage-Associated Molecular Pattern; fMLP: f-Met-Leu-Phe; GCF: gingivale Sulkusflüssigkeit; LPS: Lipopolysaccharide; MMP: Matrix-Metalloproteinasen; PMN: polymorphkernige neutrophile Granulozyten).
Tab. 1 Definitionen für Faktoren, die den Verlauf einer Erkrankung (z. B. Parodontitis) beeinflussen8.
Risikofaktor: Eine Variable, von der angenommen wird, dass sie mit der Krankheitsentstehung eines Individuums kausal in Zusammenhang steht. Diese Variable kann aus |