Hör nie auf zu träumen. Olivia Newton-John
Als ich noch ziemlich jung war, stieg ich vor dem Badezimmerspiegel auf einen Schemel. Ich hatte ein Fieberthermometer im Mund und wollte aus unbekanntem Motiv meine Temperatur messen. Da ich nicht wusste, wie ich das bewerkstelligen sollte, biss ich das Glas durch. Schlagartig schmeckte ich das Quecksilber auf der Zunge. An diesem Punkt angelangt, entschied ich, mich an einen verantwortungsbewussten Erwachsenen zu wenden. Ich jagte meinen Eltern einen schönen Schreck ein, obwohl ich mich weiterhin bester Gesundheit erfreute.
Zumeist war ich allerdings – abgesehen von gelegentlichen Fehltritten – ein artiges kleines Mädchen. Später, als wir bereits in Australien lebten, gab es bei uns an der Schule einen wöchentlich stattfindenden „Bank-Tag“, an dem wir Geld mitbrachten, das dann für uns auf die Bank gebracht wurde. Das war ein lobenswertes Unterfangen, und ich nahm tatsächlich Geld zur Schule mit. Allerdings verwendete ich es für ein viel dringlicheres Bedürfnis. Ich kaufte damit nämlich stattdessen Lutscher für alle. Ich hielt das für eine nette Geste! Leider sah das mein Schuldirektor ein wenig anders. Mit gestrenger Stimme ließ er mich vor die Klasse treten, wo er mich vor allen zur Schnecke machte.
„Olivia Newton-John!“, brummte er. „Wo ist dein Geld? Was ist denn mit deiner Zukunft?“
Was denn für eine Zukunft? Ich war doch gerade mal fünf!
Ich steckte meine Hand in eine Tasche meines kleinen rosa Kleidchens und erklärte die Situation mit den Lutschern. Damit war es in puncto Bestrafung jedoch noch nicht getan. Auf meinem Heimweg von der Schule an jenem Tag wurde ich von jener Urgewalt abgefangen, die mein Vater, der ehemalige Agent des MI5, verkörperte. Er zog mein Dreirad hinter sich her, und ich wusste, dass ich ganz tief in der Tinte saß!
Der Direktor hatte meinen Vater angerufen, der nun stinksauer war. Aber nicht allzu lange. Zum Glück war meine Schwester Rona ein ungezähmter Freigeist, der sich gegen jede Form von Autorität sträubte, womit sie sich perfekt eignete, die Aufmerksamkeit von mir abzulenken.
An diesem Abend etwa relativierte sie mein närrisches „Verbrechen“ durch ihre eigenen Possen. Sie war vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil sie die Röcke ihrer Schuluniform zu kurz trug und ihre Haare bleichte. Außerdem schwänzte sie, um sich mit Jungs zu treffen.
Damit war ich vom Haken!
Anfang der Fünfzigerjahre nahm unser Leben eine dramatische Wendung, die meine Psyche stark prägen sollte.
Wir zogen um nach Melbourne, weil mein Vater die prestigeträchtige Position als Master of Ormond College an der University of Melbourne angenommen hatte. Mit gerade einmal vierzig war er der jüngste Mann, der jemals eine solche Stellung erreicht hatte. Ich war fünf, als meine Eltern, Hugh, Rona und ich ein Schiff namens Straitharde bestiegen, um den Ozean zu überqueren und nach Australien zu ziehen.
Sogar in so jungen Jahren war ich sehr stolz auf meinen Vater, weil er sich gegen ältere und erfahrenere Mitbewerber um diesen wichtigen Posten durchgesetzt hatte. Dad hatte dem Dekan einen Brief geschrieben, in dem er erklärte, dass er seiner Familie das unglaubliche Land Australien näherbringen wolle. Daraufhin erhielt er die Stelle.
Diese Macher-Mentalität ist tief in der Familie Newton-John verankert.
Beruflich stellte dies eine einmalige Chance für meinen Vater dar –
und auf privater Ebene bot sich meinen Eltern die Möglichkeit, einen neuen gemeinsamen Lebensabschnitt einzuläuten. Vor unserem Umzug hatten sie sich oft gestritten. Sie nahmen an, dass ein Tapetenwechsel einen Neuanfang ermöglichen würde.
Meine einzige Erinnerung an unsere Seereise, die uns von Cambridge zu unserem neuen Leben an diesem Ort namens Melbourne führte, bestand darin, dass ich meinen liebsten Teddybären Fluffy verlor. Ich war am Boden zerstört, denn ich liebte Fluffy. Meine Eltern ersetzten ihn durch einen Plüsch-Pinguin namens Pengy (wie kreativ!), den sie im schiffseigenen Laden fanden. Ganz dasselbe war es aber nicht. Manche Dinge sind einfach unersetzlich, wie ich schon bald in viel größerem Maßstab erfahren sollte.
Wenig später fanden wir uns in einem anderen Land wieder und packten Umzugskartons in unserem fantastischen neuen Zuhause auf dem Uni-Campus aus. Dabei handelte es sich um eine schöne Steinvilla mit ausufernden Schlafzimmern und eigener Haushälterin. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich die langen Flure hinunterging, auf denen man perfekt Verstecken spielen konnte. Es gab so viele Räume zu erkunden. All dies befeuerte meine Fantasie. An einem Tag war ich eine Prinzessin in einem Schloss, am nächsten schon eine Entdeckerin. Es gab keine Grenzen.
Wir mussten auf dem Grundstück des Ormond College wohnen, damit Vater Tag und Nacht zur Verfügung stünde. Das machte keinem von uns etwas aus, weil das Ambiente so sicher und lebendig schien. In vielerlei Hinsicht empfand ich die Umgebung als eine Art riesigen Spielplatz. Ormond war erfüllt von alten, mit wildem Wein bewachsenen Gebäuden und weitläufigen grünen Rasenflächen, auf denen ich mich austoben konnte. Ich verirrte mich auch niemals, denn im Zentrum des Campus stand ein hoch aufragender Uhrturm, der mir als Orientierungshilfe diente.
Als kleines Mädchen genoss ich es, die Studenten dabei zu beobachten, wie sie sich vergnügten. So erinnere ich mich an „Wasserschlachten“, bei denen die Studenten mit Wasser gefüllte Tüten aus den Fenstern ihrer Zimmer auf arglose Passanten fallen ließen. Wenn man im falschen Moment hochblickte, bekam man eine Ladung kaltes Nass genau zwischen die Augen!
„Du bist ja klatschnass!“, sagte Mum, wenn ich nach einem Tag am Teachers’ College zurückkehrte, wo buchstäblich jeden Monat neue Lehrer anfingen, die ihr Handwerk an uns übten.
„Ja, Mum, das stimmt“, antwortete ich freudig.
Abends konnte ich die jungen Männer hören, die einen Ruderwettkampf gewonnen hatten und im riesigen Speisesaal unter wunderschön bemalten Fenstern ihre Löffel gegen die Tischplatten aus Massivholz schlugen. Der Speisesaal schloss direkt an unser Haus an. Als ich Jahre später Ormond besuchte, um ein Ölporträt meines Vaters zu begutachten, sah ich die Dellen, die die Löffel beim Feiern hinterlassen hatten. Das weckte ein paar großartige Erinnerungen.
Meine liebste Aktivität war es, auf der Treppe vor einem schönen alten Steingebäude darauf zu warten, dass mein Dad Feierabend hatte. Da saß ich dann, ein sechsjähriges Mädchen in seiner Schuluniform, die aus einem blau und weiß karierten Kleidchen mit braunen Schuhen und kurzen weißen Söckchen bestand. Ich beobachtete die Vögel auf den Bäumen, roch die frischen Blüten und schrieb Gedichte, bis ich endlich meine kleine Hand in seine große legen konnte.
In unserem Haus gab es ein riesiges Zeichenzimmer, wo meine Eltern wichtige Vertreter des akademischen Lebens empfingen, etwa Gastprofessoren oder Rektoren anderer Universitäten, und sogar Regierungsvertreter, die Gelder für die Universität sammelten. Ich versteckte mich in einer kleinen Nische, auf halbem Weg die Treppe hoch, von wo aus ich die schmucken Gäste beobachtete, die zu den Cocktailpartys mit dem hervorragenden Catering eintrafen.
Von meinem Schlupfwinkel aus konnte ich meine Mutter in einem hinreißenden roten Samtkleid mit hunderten von winzigen roten Knöpfen am Rücken bewundern. Es sah so glamourös und aufregend aus. Sie begrüßte jeden Gast auf ihre vornehme Art. Dann nahmen sie und Vater sich jedes Mal noch die Zeit, zu mir hochzukommen und mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben.
Wenn ich nach unten eingeladen wurde, war ich mit der Aufgabe betraut, den Leuten Feuer zu geben. Aus irgendeinem Grund behagten mir der Schwefelgeruch und das Aroma des brennenden Tabaks und des Papiers. Mein Vater rauchte, wenn er mir Gute-Nacht-Geschichten vorlas, weshalb ich wohl Geborgenheit mit dem Geruch von Rauch assoziierte, auch wenn ich heute weiß, dass Zigaretten und auch Passiv-Rauchen giftig sind und der Gesundheit schaden. Damals scherte das niemanden wirklich, oder man wusste einfach nicht Bescheid. Vielmehr hielten die Ärzte es für entspannend und sogar der Gesundheit zuträglich. Kann man sich das heute überhaupt noch vorstellen?
Meine Mutter schien diesbezüglich jedoch über einen sechsten Sinn verfügt zu haben. Denn eines Abends, als ich bei einer dieser Feierlichkeiten wieder Feuer gab, nahm sie mich beiseite.
„Nun, mein Liebling, warum probierst du nicht mal eine?“, schlug sie vor und reichte mir eine ganze Packung Zigaretten.
Ich