Elvis - Mein bester Freund. George Klein
Etwa um ein Uhr nachts setzte sich Elvis an das ramponierte Klavier des Clubs.
»GK, Dewey, kommt mal her«, sagte er. »Ich will, dass ihr euch diesen neuen Song anhört, den ich aufnehmen werde.«
Auf der Bühne spielte er Gitarre, aber Klavier war sein zweites Instrument – er spielte nach dem Gehör und konnte praktisch jeden Song interpretieren, der ihm gefiel. Er begann etwas zu spielen, das ganz anders klang als alles, was wir bislang von ihm gehört hatten. Es war kein hochenergetischer Rocker, keine flotte Country-Nummer, auch kein getragener Blues. Es war beinahe ein bisschen schaurig, mit einem harten Blues-Rhythmus, der einen regelrecht in den Song hineinzog.
Er spielte »Heartbreak Hotel«.
Während er die Strophen sang, blickten Dewey und ich einander an und wussten beide, was der jeweils andere dachte: Dieser Song war ein Knüller. Als Elvis die letzte Zeile »Feel so lonely, I could die …« sang, konnten wir nicht mehr an uns halten. »Scheiße, Elvis«, jubelte Dewey. »Das ist ja total phantastisch! Wo hast du diese Nummer denn her?«
Elvis erklärte, sie stamme von einer Lehrerin aus Florida namens Mae Axton, die für Elvis’ neuen Manager Colonel Tom Parker als lokale PR-Managerin tätig sei. Sie hatte ihm gegen seinen Willen sogar ein Drittel der Rechte an dem Song abgetreten, weil sie hoffte, dass er dann genug Geld verdiente, um mit seinen Eltern in Florida Urlaub machen zu können.
»Verdammt, das ist ein Smashhit, Elvis«, sagte ich.
Elvis lächelte schüchtern und klimperte noch ein bisschen auf dem Klavier herum. »Ich weiß«, sagte er. »Es wird meine erste Veröffentlichung bei RCA. Ich glaube, das ist ein ganz guter Anfang.«
Besser hätte dieser Anfang gar nicht sein können. Im Januar 1956 nahm Elvis »Heartbreak Hotel« während seiner ersten Aufnahmesession für RCA in Nashville auf. Nur wenige Wochen später wurde der Titel zu seinem ersten Nummer-eins-Hit. Die Platte verkaufte sich millionenfach. Nie wieder würde er auf einer Ladefläche auftreten. Er hatte es mit Bill Haley aufgenommen und war sogar an ihm vorbeigezogen.
Dewey Phillips war nicht nur verrückt und äußerst unterhaltsam, er hatte auch ein ausgesprochen gutes Ohr für Musik. Er kostete die Freiheit bei der Musikauswahl voll aus, stellte aber anderseits auch eine Sendung zusammen, die Jungs wie ich nicht verpassen durften, wenn sie wissen wollten, was in der Musikszene passierte. Durch die Zusammenarbeit mit Dewey erfuhr ich ein Geheimnis seines Erfolges – er war einer der ganz wenigen DJs, die regelmäßig zu den Vertrieben fuhren, um sich dort vor allen anderen die neusten Singles anzuhören. Den Bestelllisten konnte er entnehmen, welche Singles bald im ganzen Land angesagt wären. Außerdem konnte er in den Vertrieben Exemplare mitnehmen, bevor eine andere Radiostation sie hatte. Immer wieder war er der erste Diskjockey in der Stadt, der die neuesten Hits von Chuck Berry, Bo Diddley und anderen Stars spielte.
Als ich meine eigene Radiokarriere begann, folgte ich Deweys Beispiel. Ich machte es mir zur Gewohnheit, dieselben Lagerhallen aufzusuchen, und sondierte dort die neuen Platten, sobald sie eintrafen. Auf diese Weise bekam ich viele spätere Rock’n’Roll-Hits in die Finger, darunter auch Elvis’ bis dato größten Erfolg, die Single »Don’t Be Cruel« mit »Hound Dog« auf der Rückseite. Die Platte war im Sommer 1956 in aller Munde, und als Elvis Anfang September nach Hollywood ging, um sein zweites Album aufzunehmen, konnte ich es kaum erwarten, mehr von seinem Rock’n’Roll-Zauber zu hören.
Ich musste nicht halb so lange warten, wie ich vielleicht gedacht hatte. Eines schönen Herbsttages entdeckte ich beim Vertrieb der RCA sein zweites Album – mehrere Wochen vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin. Das Album (wie sein erstes schlicht betitelt mit Elvis) hatte ein tolles Coverfoto, das ihn vor einem goldenen Hintergrund zeigte. Er trug ein grau-rosa gestreiftes Hemd, spielte auf seiner Gitarre und blickte gen Himmel. Ich bemerkte sofort, dass unter den Songs auch »Paralyzed« von Otis Blackwell war, dem Verfasser von »Don’t Be Cruel«, und »Love Me« von Jerry Leiber und Mike Stoller, einem genialen Songschreiber-Duo, das schon für »Hound Dog« verantwortlich zeichnete. Daneben war ich ein wenig überrascht, als ich feststellte, dass sich auf dem Album auch der erste Song fand, den ich Elvis je hatte singen hören – die Ode an einen treuen Hund, die er damals an der Humes High in Fräulein Marmanns Unterricht zum Besten gegeben hatte, »Old Shep«.
Ich ging direkt zum WMC-Studio und spielte in einem leeren Regieraum das komplette Album, um es in aller Ruhe genießen zu können. Als ich zu »Ready Teddy« auf Seite zwei gelangte, wurde mir plötzlich eines klar: Immer dann, wenn ich dachte, ich hätte Elvis nun in absoluter Topform erlebt, verblüffte er mich aufs Neue. Sofort nach dem Ende des letzten Stücks (»How Do You Think I Feel« von Webb Pierce) griff ich zum Telefon und rief Elvis zu Hause an. Ich wusste, dass er gerade von den Dreharbeiten zu Love Me Tender in die Stadt zurückgekehrt war. Seine Mutter holte ihn an den Apparat, und ich teilte ihm mit, was ich von dem neuen Album hielt. Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, dann sagte er: »Von welcher Platte sprichst du, GK?«
»Von deinem zweiten Album, Elvis.«
»Du machst wohl Witze. Wo hast du das denn her?«
»Ich bin einfach zum Vertrieb gegangen und habe dort eine Platte mitgenommen. Dann bin ich gleich zum Sender rüber, um sie zu spielen, und sie ist einfach klasse.«
»Mensch, GK – ich wusste nicht mal, dass das Ding schon raus ist, und habe selbst noch kein Exemplar«, sagte er. »Könntest du mir die Platte nicht rasch vorbeibringen?«
Selbstverständlich sagte ich gerne zu. Ich bat Elvis zwar nur selten um einen Gefallen, doch an jenem Tag fragte ich ihn, ob es in Ordnung wäre, wenn ein Fotograf von WMC mitkäme, wenn ich ihm die Platte überreichte. Elvis war einverstanden. Am Ende hatte ich phantastische Bilder, auf denen wir gemeinsam das Album hielten. Entweder saßen wir dabei auf seiner dicken Harley Davidson oder standen neben seinem blitzblanken Mark II Lincoln Continental.
An einem Nachmittag Anfang Dezember 1956 besuchte mich Elvis bei WMC und lud mich zu einer Spazierfahrt in einem Auto ein, wie ich noch keines gesehen hatte – einem brandneuen Cadillac Eldorado. Während dieser Fahrt erwähnte ich ihm gegenüber, dass WDIA am Abend seine alljährliche Wohltätigkeitsveranstaltung »Goodwill Revue« im Ellis Auditorium veranstalten werde. Es handelte sich dabei um eines von zwei großen Benefizkonzerten, die der Sender jedes Jahr organisierte, um Geld für bedürftige schwarze Kinder und Familien zu sammeln. Bei dieser Wohltätigkeitsveranstaltung traten regelmäßig schwarze Topstars vor einem riesigen schwarzen Publikum auf, und die Veranstaltung war entsprechend bekannt. Die Liste der Künstler umfasste diesmal Ray Charles, den ehemaligen DIA-DJ B.B. King, einen aufregenden Pianisten namens Phineas Newborn und mehrere Gospelgruppen. Moderiert wurde das Ganze von Rufus Thomas, der als »Häuptling Schaukelpferd« verkleidet war. Elvis war sofort Feuer und Flamme und schlug vor, gemeinsam hinzugehen.
Ein paar Stunden später war es so weit, und wir betraten den Garderobenbereich des Ellis Auditorium. Einer der Ersten, die uns über den Weg liefen, war Rufus Thomas, der kürzlich reichlich Schelte bezogen hatte, weil er die Rassengrenze überschritten und Elvis-Platten auf WDIA gespielt hatte. Er eilte mit breitem Grinsen herbei, packte Elvis und dankte ihm für sein Kommen.
»Du singst also heute Abend was für uns, Elvis?«, fragte Rufus.
Elvis’ Hauptinteresse beim Besuch der Show war es, so unauffällig wie möglich zu bleiben und nichts zu tun, was den planmäßigen Ablauf des Konzerts in irgendeiner Form stören konnte.
»Das ist dein Abend, Rufus«, sagte er. »Ich habe auf dieser Bühne nichts verloren.«
»Wenn ich dich schon nicht zum Singen bewegen kann, dann lass mich dich doch wenigstens vorstellen, und du verbeugst dich kurz«, sagte Rufus. »Viele Leute da draußen würden sich wahnsinnig freuen, dich zu sehen.«
»Na gut«, sagte Elvis. »Von mir aus gerne.«
Wir hingen eine Weile backstage herum, wo wir die Künstler des Abends trafen. Wir begegneten B.B. King, mit dem sich Elvis eine Weile unterhielt – ein Augenblick, den der große Fotograf Ernie Withers festhielt (dessen Bilder von der Bürgerrechtsbewegung später um die Welt gingen). Mit wem er auch sprach, so horchte Elvis doch stets mit einem Ohr