Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
befahl Hasard. „Wir versuchen, ihm den Weg abzuschneiden!“
Wieder setzte die flinke Betriebsamkeit der Männer ein. Die „Isabella“ war kein behäbiger Kahn, sondern ein schneller, gewandter Segler unter ihren kundigen Griffen, der mit den Fluten verwachsen zu sein schien.
Fast gelang es dem Seewolf, den Geheimnisvollen zu erreichen. Nur ganz knapp rauschte dieser an ihm vorbei.
„Wir könnten ihm zwei Drehbassenschüsse verpassen!“ rief Old Donegal Daniel O’Flynn.
Hasard schüttelte den Kopf. „Du kennst doch meine Prinzipien. Er muß uns herausfordern.“
„Das hat er doch schon getan.“
„Das genügt nicht. Er muß das Feuer voll eröffnen, dann antworten wir“, sagte Hasard.
Der Alte knirschte mit den Zähnen und schnaubte durch die Nase. Er bezwang sich aber, noch etwas zu äußern. Gegen den Seewolf kannst du nicht anstinken, sagte er sich im stillen.
Wieder schwiegen die Kanonen auf dem anderen Schiff. Es glitt davon. Die Seewölfe hatten die Gelegenheit, es sich genau anzuschauen.
„Da ist keiner an Bord“, erklärte Matt Davies dumpf. „Das ist ein Geisterkahn, sag ich euch.“
„Abergläubisch?“ Gary Andrews lachte auf. „Mann, die Besatzung hält sich absichtlich versteckt. Die will uns foppen und zum Narren halten.“
„Aber warum?“ fragte Matt.
Carberry stand breitbeinig hinter ihm und brummte: „Das ist doch klar wie die Brühe, die der Kutscher kocht. Die Halunken da drüben denken, wenn sie uns erst genügend verwirrt haben, können sie uns übertölpeln.“
Hasard ließ wieder anluven und führte die Jagd hart am Wind weiter fort. Gespannt blickten er und seine Männer der Galeone nach – wie sie im Einsetzen der Dämmerung die am weitestens östlich liegende Nachbarinsel erreichte und das Ostufer rundete.
Plötzlich war sie verschwunden.
Hasard folgte ihrem Kurs genau. Das Inselufer glitt an Backbord dahin, wölbte sich weiter von der „Isabella“ fort und gab den Blick auf die weiter nördlich liegenden Zonen frei.
Aber das fremde Schiff war wie von der See verschluckt.
„Ich hab’s ja geahnt“, stieß Matt Davies betroffen hervor. „Hier spukt’s.“
4.
Thorfin Njal und seine neun Männer hatten keine Schwierigkeiten gehabt, die Eingeborenenmädchen zu verfolgen. Deutlich waren die Spuren zu sehen: Niedergetretenes Gras, Fußstapfen im weichen Untergrund. Und immer wieder raschelte es verräterisch vor ihnen ihm Dikkicht.
Dann aber ertönte wie aus weiter Ferne ein Donnergrollen.
Thorfin Njal blieb stehen. Der Stör, der gleich hinter ihm marschierte, trat ihm fast auf die Hacken.
Sie verharrten alle, und Muddi meinte: „Teufel, schon wieder ein Erdstoß. Wenn das so weitergeht …“
„Unsinn“, sagte Eike. „Das war ein Kanonenschuß. Darauf gehe ich jede Wette ein. Übrigens wackelt die Erde auch gar nicht.“
„Stimmt“, entgegnete Thorfin Njal. „Bei allen Göttern – es hat Ärger in der Ankerbucht der Schiffe gegeben. Wir müssen sofort zurück. Kehrt marsch, Männer, unsere Leute brauchen bestimmt Hilfe.“
Er hatte die letzten Worte gerade ausgesprochen, und der Stör wollte sie getreu seiner Angewohnheit nachplappern, da raschelte es wieder im Gebüsch, diesmal ganz in ihrer Nähe. Dem Stör blieb das Echo im Halse stecken. Er packte den Griff seiner Steinschloßpistole. Die anderen zückten auch ihre Feuerwaffen.
Mike Kaibuk zuckte zusammen. Er hatte nach rechts geschaut und ein Augenpaar entdeckt, das ihn aus dem dichten Grün des Blättervorhangs anstarrte.
„Verdammt“, ächzte er, hob seine Muskete und wollte auf diese dunklen, forschenden Augen anlegen.
Thorfin Njal hatte den Kopf gewandt, sah aber nicht nur das eine Augenpaar, sondern auch ein zweites und das dazu gehörende Gesicht, dann eine Gestalt, die langsam aus den Sträuchern hochwuchs.
Überall, rund um die Zehner-Gruppe, erhoben sich jetzt braunhäutige Menschen. Sie standen in den Büschen, kauerten in Baumkronen, waren mit einemmal einfach da und betrachteten die Eindringlinge in einer Mischung aus Neugierde und Mißtrauen.
„Schweinerei“, zischte Muddi. „Da haben wir den Salat. Was ist, auf was warten wir? Putzen wir die Kerle weg.“
„Augenblick mal“, sagte Thorfin Njal mit dröhnendem Baß. Täuschte er sich, oder zuckten die Eingeborenen wirklich zusammen, als sie seine Stimme vernahmen? „Die haben ja gar keine Waffen. Wollt ihr auf Wehrlose schießen? Untersteht euch.“
Der Boston-Mann schaute in die Runde und musterte die braunhäutigen Menschen genauer. Wirklich, sie trugen weder Pfeil noch Bogen noch Blasrohre noch irgendwelche andere Waffen bei sich. Einige hatten zwar Messer im Lendenschurz stecken, trafen aber keine Anstalten, sie zu zücken.
Thorfin Njal kratzte sich am Kupferhelm. Was sollte er jetzt tun? Etwas Derartiges hatte er noch nicht erlebt. Er zählte die Männer. Es waren gut zwei Dutzend. Wahrscheinlich waren sie von den verstörten Mädchen alarmiert worden, hatten sich dann angeschlichen und versteckt, bevor die Weißen heran gewesen waren. –
So einfach war das.
Thorfin Njal gab sich einen Ruck und trat auf den zu, der genau vor ihm stand. Der Wikinger war ein Mann der Tat, Ungewißheiten und ratloses Aufder-Stelle-Treten haßte er wie die Pest.
„Also, hör zu“, begann er. „Wir haben nichts Arges gegen euch im Sinn. Bestimmt nicht. Ihr könnt ganz beruhigt sein. Den Mädchen haben wir ja auch nichts getan, wie ihr wißt. Ich habe meinen Kerlen hier sogar gesagt, sie sollen die armen Dinger nicht anglotzen. Deswegen und weil wir keine Halunken sind, sollten wir Freundschaft schließen.“
Er streckte die rechte Hand aus.
Sie war ungefähr so groß wie eine Ankerklüse, schwielig und mit einigen Messernarben versehen.
Der Inselmann blickte nachdenklich darauf. Er schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Es flackerte zwar immer noch kein Haß in seinen Augen auf, aber er schickte sich auch nicht an, die ihm dargebotene Pranke zu ergreifen.
„Er versteht dich nicht“, sagte der Boston-Mann.
„Versuche doch, es ihm auf spanisch zu verklickern“, schlug Eike vor.
Thorfin raffte im Geist alle Brokken Spanisch zusammen, die er kannte, holte tief Luft und hielt seine Ansprache noch mal. Es wurde ein grauenvolles Kauderwelsch, schlimmer als Carberrys übelstes Spanisch, aber der Eingeborene lächelte plötzlich und verneigte sich.
Mit Thorfin Njals Hand wußte er immer noch nichts anzufangen. Er drehte sich aber um, winkte auffordernd und schritt in die Richtung, in der die fünf Mädchen verschwunden waren.
„Zwei Mann laufen zur Bucht und sehen nach, was da los ist“, entschied der Wikinger. „Pedro Oritz und Diego Valeras. Hastig, beeilt euch. Ich will wissen, was es mit dem Schuß auf sich hat. Aber die Gelegenheit, das Dorf dieser Burschen hier zu sehen, will ich auch nicht verpassen.“
Die Portugiesen hasteten davon. Die Eingeborenen blickten ihnen ein wenig verwundert nach, unternahmen aber nichts, um sie aufzuhalten.
Es raschelte und scharrte im Gebüsch, die Inselmänner bildeten eine Gruppe vor Thorfin und seinen Begleitern und führten sie raschen Schrittes voran.
Etwas weniger als eine halbe Meile weiter öffnete sich tief im Wald eine große Lichtung. Staunend schauten die fünf Wikinger, der Boston-Mann, Muddi und Mike Kaibuk auf die vielen schilfgedeckten Hütten, die sich dort aneinanderreihten und einen Halbkreis bildeten. Ein paar Kinder erschienen als erste auf