Seewölfe Paket 24. Roy Palmer
„Aber ich glaube, wir haben schon einen Pluspunkt verbuchen können. Sie scheinen nicht mehr so feindlich zu sein.“
„Der sieht immer nur das Gute im Menschen“, murrte der Profos, „selbst wenn es die größten Menschenfresser sind.“
Das Kanu wurde auf den Strand gepaddelt. Aus der Nähe sahen sie, daß es mit allerlei Dingen beladen war.
Dem Kutscher schwante schon etwas. Er kniff die Lippen zusammen und linste aufmerksam hinüber.
Die Arawaks begannen jetzt aufgeregt zu schnattern, deuteten auf das Kanu, dann auf die gefesselten Männer. Ein paar der angekommenen Indianer grinsten und schienen sich köstlich zu amüsieren. Einer von ihnen deutete mit ausgestreckter Hand auf Old O’Flynn und lachte laut.
„Witzbolde“, knurrte Old Donegal verärgert. „Möchte wissen, was es da so dämlich zu lachen gibt.“
„Vielleicht grinsen sie über dein Holzbein, Granddad“, sagte Philip, „das hat sie doch gestern so beeindruckt. Sie kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.“
„Ein Holzbein ist keine lächerliche Sache“, schnaubte Old Donegal.
„Heiliger Strohsack“, sagte Martin, „das sind ja unsere Sachen. Die Halunken haben unser Schiff ausgemistet.“
Mit knirschenden Zähnen sahen die Männer zu, wie das Kanu entladen wurde. Waffen kamen zum Vorschein, Pistolen und Musketen, und wurden in den Sand gelegt. Dann folgten Messer, Taue, Segeltuch, schließlich Kochtöpfe und Pfannen aus der Pantry. Auch eine größere Kiste war dabei.
Als das alles am Strand lag, wurde es ausgiebig bestaunt und begutachtet. Auch der Häuptling nahm sich davon nicht aus. Er stierte hier herum, sah dort nach und nickte.
Offenbar hatten die Arawaks jetzt gute Laune, denn sie begannen, Späße auf Kosten der anderen zu treiben, und die anderen waren diesmal die Gefangenen.
Der eine Arawak, der lachend auf Old O’Flynn gezeigt hatte, war hier anscheinend der Witzbold vom Dienst. Er ging zu dem Kanu hinüber und holte etwas heraus.
Die Männer linsten jetzt noch aufmerksamer, ganz besonders Old O’Flynn, der noch nicht wußte, daß er jetzt kräftig veräppelt werden sollte.
Der Kerl hielt einen Ölhut hoch und lachte wieder.
„Das ist ja meiner“, sagte Old Donegal wütend. „Die machen sich gleich ins Hemd, wenn wir ihr Kanu klauen, aber die Halunken haben bei uns noch viel mehr geklaut.“
Eine merkwürdige Prozedur folgte. Der Indianer sagte etwas zu einem anderen, woraufhin der das rechte Bein nach hinten anwinkelte. Ein anderer band es ihm mit einer Leine fest. Ein weiterer befestigte am Oberschenkel einen dicken Holzprügel und band ihn ebenfalls fest. Es sah aus, als hätte er jetzt ebenfalls ein Holzbein. Dann stülpte er sich den Ölhut auf und begann mit seinem nachgeahmten Holzbein herumzuhüpfen.
Er imitierte Old O’Flynn, lachte immer wieder schrecklich, deutete auf Donegal und hüpfte im Sonnenlicht mit Holzbein und Ölhut über den Sand.
Der indianische Clown erregte jede Menge Heiterkeit. Die Arawaks lachten und hielten sich die Bäuche, wenn der Witzbold mit verzerrtem Gesicht herumhüpfte.
Einmal fiel er dicht vor Old Donegal in den Sand, weil er das Hüpfen nicht so gewohnt war. Die anderen halfen ihm wieder auf, und dann ging das lustige Holzbeintänzchen munter weiter.
Old O’Flynn selbst lief fast die Galle über. Mit zornverzerrtem Gesicht stand er am Baum und war knallrot als dieser Kerl an ihm vorübersprang, Faxen machte und schrecklich lachte. Dabei zeigte er immer wieder auf das Holzbein und den Ölhut.
„Dieser Indianerarsch!“ brüllte er voller Wut. „Hoffentlich fällt er ordentlich aufs Maul, dieser lausige Bastard!“
Das Tänzchen ging aber lustig weiter, weil sich die anderen Arawaks an den Verrenkungen nicht satt sehen konnten. Schließlich mußte auch der Profos grinsen, aber Old O’Flynn sah es und wurde noch biestiger.
„Mußt du dämlicher Ochse auch noch darüber lachen?“ schrie er. „Nur weil so ein indianischer Hanswurst hier herumhüpft und meinen wasserdichten Hut aufhat? Hoffentlich äffen sie deine fürchterliche Visage auch mal nach, dann werde ich lachen.“
„Meine Visage ist einmalig“, sagte der Profos, „die kann man nicht nachäffen.“
Nach einer Weile hatten sie von der Parodie genug und feuerten Holzbein und Ölhaut in den Sand. Damit war die Scherzeinlage beendet, denn jetzt erregte die Holzkiste, die sie aus dem Kanu geschleppt hatten, ihre ganze Aufmerksamkeit.
Diesmal wurde der Kutscher rabiat, ein Umstand, der nur selten auftrat. Aber wenn er rabiat wurde, dann gleich richtig.
„Mein Besteck!“ brüllte er. „Laßt die Finger von meinem Arztbesteck, sonst holt euch verlauste Hurenböcke der Teufel! Das ist nicht für eure Griffel, verdammt noch mal. Haut ab!“ brüllte er noch lauter. „Ihr könnt damit nichts anfangen!“
Vor ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Dann begann er sich in den Fesseln zu winden und lief rot an. In diesem Augenblick sah er völlig unbeherrscht aus.
Zu Recht allerdings, obwohl Carberry nur noch staunte. Denn jetzt hatten die Arawaks die Kiste geöffnet und holten alles heraus, was sich darin befand.
Einer hielt staunend eine funkelnde Schere hoch, ein anderer hantierte unwissend mit einem scharfen Skalpell, während ein dritter völlig verständnislos eine Knochensäge betrachtete und damit in der Luft herumfuchtelte.
„Saubande!“ brüllte der Kutscher, außer sich vor Wut. „Leg das Verbandszeug in die Kiste zurück, du aufgetuchtes Rübenschwein! Und du nimm die Griffel von der Salbe, du Jauchetreter!“
Der Profos schluckte trocken, als er das hörte. Er starrte den Kutscher an und kriegte das Maul vor Staunen nicht mehr zu. Das waren ja ganz liebliche, aber vom Kutscher nur selten gehörte Töne. Der legte vielleicht los, der beleidigte die ganze Ahnenreihe der Arawaks mit den übelsten Schimpfnamen und wünschte ihnen allen die Pest an den Hals.
Als er so lostobte, drehte sich der Häuptling erstaunt um.
„Laß das Zeug liegen, du Oberschnapphahn!“ brüllte der Kutscher. „Ihr kapiert doch nicht, was das ist. Mann, wenn ich hier loskomme, dann gibt’s Senge nach allen Seiten! Und in deinen Indianerhals schlag’ ich fünf Knoten!“
Dem Profos stand immer noch die Futterklappe offen. So zornig hatte er den Kutscher noch nie gesehen. Wenn der so weitertobte, dann riß er glatt den Baum aus, an den er gefesselt war.
Sogar Sir John war ganz verstört, als der Kutscher brüllte. Erschrocken flatterte er höher in die Astkrone des Baumes.
„Junge, Junge“, murmelte Carberry heiser, „wer hätte das von dem lieben Kutscherlein gedacht!“
Aber dem war jetzt alles egal. Es ging um sein Besteck, und da war ihm alles gleich. Erneut begann er loszubrüllen und zu toben, daß die Indianer erschrocken zusammenfuhren. Völlig perplex starrten sie auf den krebsrot angelaufenen Mann, der ihren ehrwürdigen Ahnen mitleidlos die Knochen abfluchte.
6.
Coanabo war sehr beeindruckt von dem, was der schmalbrüstige Mann hier zum besten gab: Gerade eben war er doch noch von beeindruckender Freundlichkeit gewesen, und jetzt legte er los, daß er nicht mehr wiederzuerkennen war.
Völlig unberechenbar sind diese Weißen, dachte Coanabo. Erst sind sie friedlich, gleich darauf gebärden sie sich wie toll.
Was war nur in den freundlichen Mann gefahren – ein Geist oder Dämon?
Coanabo trat näher an den Kutscher heran und blickte forschend in das wutverzerrte Gesicht. Er sprach wieder Spanisch.
„Was erregt dich so, weißer Mann?“
„Was mich erregt?“