Seewölfe Paket 15. Roy Palmer
Rest der Bande? Dort hinten, bei den Lagerhäusern? An einer stillen, abgelegenen Pier?“
„Sag die Wahrheit, Bursche, oder es geht dir schlecht!“ stieß Ben Brighton zornig hervor, und diese Worte gaben den eigentlichen Anlaß zu Reeves’ nächster Reaktion.
Völlig unerwartet schüttelte er Bens Hände ab, tauchte weg und nahm Reißaus, denn er rechnete fest damit, daß die Seewölfe jetzt auch ihn zusammenschlugen. Old O’Flynn stellte ihm gedankenschnell sein Holzbein, Reeves strauchelte und fiel hin. Er stöhnte, sprang wieder auf, wurde aber von Shane gestoppt, der ihn mit einem einzigen Hieb fällte.
„Lord Cliveden“, brummte der graubärtige Riese. „Das schlägt dem Faß den Boden aus. Genausogut hätte er sagen können, die königliche Lissy sei erschienen, um mit uns zu sprechen.“
„Wieso?“ fragte Carberry. „Kennst du diesen Cliveden?“
„Ich? Nein. Du vielleicht?“
Carberry kratzte sich verwirrt an seinem riesigen Kinn und brummelte schon wieder einen saftigen Fluch. Sir John, der karmesinrote Aracanga, der die ganze Zeit über durch die benachbarten Gassen geflattert war und jetzt wärmesuchend zu seinem Herrn zurückkehrte, wollte sich mit einem schmeichlerischen Gackern auf seiner Schulter niederlassen, doch der Profos scheuchte ihn weg wie eine lästige Fliege.
Erst mal mußte Carberry sich darüber klarwerden, was eigentlich gespielt wurde. Die Angelegenheit war total verfahren, ein Buch mit sieben Siegeln. Je mehr er herumgrübelte, desto undurchschaubarer wurde sie, und diese Tatsache versetzte ihn erst richtig in Wut.
„Sir“, sagte Dan. „Könnte nicht wirklich was Wahres an der Sache sein? Wegen der ‚Hornet“, meine ich?“
„Falls hier in Plymouth ein Lord aufgetaucht wäre, der uns eine Botschaft zu überbringen hat oder uns in irgend etwas einweihen will, würde er sich bestimmt nicht einer Handvoll Galgenstricke bedienen, um uns zu sich zu rufen“, erwiderte der Seewolf, und diese Feststellung genügte seinen Männern, um sie vollends davon zu überzeugen, was für eine haarsträubende Lügengeschichte dieser Reeves ihnen aufgetischt hatte.
„Was machen wir mit diesem Lumpengesindel?“ wollte Old O’Flynn mit einem Fingerzeig auf die immer noch bewußtlosen sechs Gegner wissen.
„Durchsuchen“, ordnete der Seewolf an, und sie beugten sich über die reglosen Gestalten.
Bei dieser Leibesvisitation förderten sie aber nur Waffen zutage, ein wenig Munition und eine Handvoll Münzen, sonst nichts. Hasard deutete zu den Piers und nickte seinen Männern zu. Sie packten die sechs Kerle, schleppten sie über den Kai zu den Piers und beförderten sie einen nach dem anderen ins Hafenwasser.
Mit einem lauten Klatscher verschwand der erste in den schwärzlichen Fluten, dann die nächsten beiden. Der vierte kam plötzlich zu sich, riß die Augen weit auf und blickte abwechselnd Shane und Carberry an, die gerade Anstalten trafen, auch ihn ins Wasser zu werfen.
„Aufhören!“ stieß er entsetzt aus. „Seid ihr wahnsinnig?“
„Paß auf, wie du sprichst, du Affe“, sagte der Profos grimmig. „Sonst hänge ich dir zusätzlich noch einen Stein ans Bein.“
„Ich – ich kann euch alles erklären!“
„Interessant“, brummte Shane. „Aber nimm jetzt erst mal ein Bad, es scheint ein Jahr her zu sein, daß du den letzten Dreck von dir abgekratzt hast. O Jesus, du stinkst ja, Junge.“
Old O’Flynn kicherte, Dan und Roger lachten. Ben und Ferris schwiegen.
Hasard trat auf den fremden Mann zu und sagte nur ein einziges Wort: „Name?“
„Hoback. Ray Hoback.“
„Kennst du Reeves?“
Hobacks Blick irrte zu Reeves’ regloser Gestalt auf der Pier, die noch darauf wartete, dem Wasser übergeben zu werden. Vorsichtshalber schüttelte er den Kopf, aber es war seinem Gesicht deutlich abzulesen, daß dies eine Lüge war.
„Wer schickt euch, Hoback?“ fragte der Seewolf ärgerlich.
„Lord Gerald Cliveden“, entgegnete der Mann leise. „Aber das ist ein Geheimnis, keiner außer euch darf es erfahren.“
„Ab in den Teich mit ihm“, sagte Hasard. Shane und Carberry hoben gleichzeitig die Füße und versetzten Hoback je einen Tritt, so daß dieser wie von einem Katapult geschnellt von der Pier flog und in den Fluten landete. Hier tauchte er zunächst unter und gleich darauf wieder auf. Dann gesellte er sich zu seinen Kumpanen, die jetzt ebenfalls die Köpfe aus dem Wasser erhoben hatten und heftig prusteten.
Auch mit dem fünften und dem sechsten Mann fackelten die Seewölfe nicht lange, dann wandten sie sich ab und setzten ihren Weg zur „Bloody Mary“ fort, wo der Rest der Crew auf sie wartete.
Keiner von ihnen ahnte, daß sie doch einem peinlichen Irrtum erlegen waren.
Zwei Gestalten standen wie Wachtposten vor der Kneipe des Nathaniel Plymson. Beim Nähertreten identifizierten Hasard und seine sieben Begleiter sie als Smoky und Jack Finnegan. Die beiden drehten immer wieder ihre Köpfe in alle Richtungen und hielten allem Anschein nach Ausschau nach ihren Kameraden.
Sie entdeckten sie wegen des Nebels erst, als diese auf wenige Schritte an sie heran waren. Smoky stieß einen Fluch aus.
„Herrgott, Sir“, sagte er. „Wo habt ihr denn bloß gesteckt? Wir haben uns schon um euch gesorgt. Ihr wolltet doch bloß kurz zum alten Ramsgate, um euch davon zu überzeugen, daß es mit den Arbeiten am Schiff vorangeht, und dann …“
„Dann wollten wir uns hier zu einem Umtrunk mit euch anderen treffen“, unterbrach Hasard ihn lächelnd. „Also gut, da sind wir. Wieso regst du dich auf? Sind die anderen denn schon alle da?“
Smoky, der Decksälteste von der „Isabella“, musterte seinen Kapitän nachdenklich von oben bis unten. „Es fehlt keiner, und Plymson, diese Ratte, hat schon wieder seinen unruhigen Blick, weil er um seine Einrichtung bangt. Aber willst du mir nicht endlich erzählen, was vorgefallen ist?“
„Ist denn was gewesen? Sieht man mir das an?“ fragte der Seewolf amüsiert. „Jawohl, Sir. Du hast da einen frischen Kratzer an deiner linken Wange, und in deinem Hemdsärmel ist ein Riß.“
„Ihr seht auch ein bißchen ramponiert aus“, sagte Jack Finnegan zu den sieben anderen Männern und grinste. „Kleine Auseinandersetzung gehabt, was? War das eine Meinungsverschiedenheit? Mit wem denn?“
Sir John, der jetzt doch in Carberrys Hemd untergekrochen war, streckte seinen Kopf zum Ausschnitt heraus und krächzte: „Klar bei Brassen, ihr Kakerlaken! Feind an Backbord!“
Die Männer lachten.
Hasard sagte: „Das erzähle ich, wenn wir drinnen sind, sonst muß ich ja alles zweimal sagen.“
So betraten sie gemeinsam die „Bloody Mary“, die schon seit vielen Jahren ihr Treffpunkt war, wenn sie sich in Plymouth aufhielten – sehr zum Leidwesen Nathaniel Plymsons, der einige berechtigte Gründe dafür aufzählen konnte, warum er vor den Seewölfen zitterte, wenn er sie nur auf die Distanz von hundert Yards erblickte.
Die „Bloody Mary“ stand an der Ecke Milbay Road und St. Mary Street. Sie war das Erbe des Großvaters von Nathaniel Plymson, das sein mißratener Enkel wie seinen Augapfel hütete. Dabei scherte es den dikken Plymson einen Dreck, was die Bürger von Plymouth von ihm und seiner Kneipe hielten. Daß sie eine Lasterhöhle war, in der die Seeleute ihren letzten Copper versoffen, wußte er selbst. Und daß es hier nicht immer mit rechten Dingen zuging, war auch jedem klar.
Für Plymson war sie nichts anderes als eine ergiebige Goldgrube. Hinzu gesellte sich noch der Judaslohn für gepreßte Seeleute, den der Wirt sich nebenbei verdiente. Die Fahrensmänner, die ihm zum Opfer fielen, waren längst hinter der Kimm verschwunden, wenn sie aus ihrem Katzenjammer erwachten und sich an Bord eines fremden Schiffes wiederfanden. Die meisten von ihnen wußten nicht einmal, wie ihnen geschehen war,