Bilder der Levante. Michael Jansen
Kurz nachdem wir in das Haus gezogen waren, der erste Neubau im Dorf seit hundert Jahren, hatte Godfrey Khalil gefragt, wie lange es dauern werde, bis wir akzeptiert seien. Entworfen hatte das Haus ein Freund aus Beirut, doch die Bauaufsicht hatte jemand aus dem Dorf, die Maurerund Schmiedearbeiten stammten von anderen Schemlanis und die Schreinerarbeiten von Khalils Cousin. Khalil zog eine Augenbraue hoch und antwortete: »Nun ja, sehen Sie, Herr Jansen, Schemlan wurde von den Hittis im 11. Jahrhundert gegründet. Das Land gehörte den Drusen. Im 15. Jahrhundert kamen dann die Tabibs. Wir Hittis sprechen noch immer nicht mit den Tabibs.« Eine Fehde habe die Spaltung offiziell gemacht, als ein Barbier aus der Familie Tabib bei einem Streit über eine lang vergessene Frage mit einer Schere auf Khalils Vater eingestochen habe.
Unser Abschied sagte mehr über unsere Zugehörigkeit aus, als uns klar war. Über dreißig Jahre später holten George und Leila mich im Mayflower-Hotel in Beirut ab und wir fuhren zu einem Restaurant im Städtchen Brummana, im hauptsächlich maronitisch-christlichen Gouvernement Libanonberg. Ein anderes Paar von der Hitti-Seite des Dorfs, die Farajallahs, stieß dazu. Beim Abendessen erzählte ich Maud Farajallah, was Khalil damals zu Godfrey gesagt hatte. Sie antwortete, ganz ernst: »Nein, nein, ihr Jansens wart immer respektierter als die Tabibs.«
Die Reise in den Süden, nach Tyros, führte uns auf die Küstenstraße, mit Unterbrechungen an zahlreichen Kontrollpunkten der syrischen Armee. Der Verkehr war spärlich, während unser Konvoi entlang der Bananenhaine zu beiden Seiten der Straße fuhr, durch Sidon kurvte und weiter nach Tyros, vorbei an einem unserer Lieblingsrestaurants, »Hassan und Hussein«, wo der Fisch immer frisch und gut zubereitet war. Am Hafen von Tyros erfuhren wir, dass noch am selben Abend ein Frachtschiff nach Zypern auslaufen werde, und gingen sofort ins Büro der Reederei, um die Überfahrt zu buchen, bezahlt mit einem Bündel Reiseschecks von einer vorherigen Zypernreise. Seit mehreren Monaten schon hatten wir Godfreys Gehalt von unserem Konto in Nikosia abheben müssen, Überweisungen an Banken in Libanon waren wegen des Bürgerkriegs ausgesetzt worden. In der Bar am Fuß des Kais gab es statt des libanesischen Almaza und Aziza gelbe Dosen Keo-Bier aus Zypern.
Weil die Kabinen schon alle ausgebucht waren, suchten wir uns einen Platz an Deck auf einem Lukendeckel, und bauten uns aus unseren Kisten eine Art Burg. In der Mitte rollten wir einen Kelim aus und legten das Kupfertablett auf eine Kiste, ein niedriges Tischchen. Ein wenig Zuhause auf der Reise aus dem Kriegsgebiet. Das Abendessen bestand aus einer Flasche Champagner und furchtbaren Sandwiches, Feta mit Corned Beef, die D am Morgen geschmiert hatte, als niemand hingesehen hatte. David Hirst, ein Guardian-Journalist und Mitpassagier, gesellte sich zu uns, um auf George und Leila anzustoßen.
Die seekranke Balu stand gemeinsam mit einem eleganten Irish Setter an der Reling, dann legte sie sich zwischen Godfrey und Marya in unser kleines Fort. Ich öffnete den Reißverschluss der Reisetasche ein wenig und schob meine Hand durch die kleine Öffnung, um T. S. zu beruhigen und ihn davon abzuhalten, maunzend an den Innenseiten der Tasche zu kratzen. Unser Siamkater hasste es, eingesperrt zu sein. Doch so lange er wusste, dass ich in der Nähe war, fühlte er sich sicher. Wir schliefen kaum und warteten auf die Morgendämmerung, die sich schließlich zwischen kühlfeuchten Schichten von Nebel und Wolken vor Limassol auftat. Das Schiff ging außerhalb des Hafens vor Anker, und wir warteten auf die Leichter, die uns mit unseren Kisten in den Hafen brachten. Dort griff sich ein Beamter in perfekt gebügelter weißer Uniform sofort Balus Leine. »Den Hund können Sie nicht mit an Land bringen«, erklärte er. »Aber Sie haben Glück, es ist gerade ein Mann vom Veterinäramt da. Der nimmt ihn mit in den Quarantänezwinger nach Nikosia.« T. S. in der Reisetasche verschwiegen wir, und zum Glück blieb er still. Der Beamte schrieb uns die Telefonnummer der Quarantänestation auf und führte Balu weg, die mit schlaffen Ohren und hängendem Schwanz davontrottete.
Am Einwanderungsschalter verbürgten wir uns für George und Leila: Zypern war überlaufen von mittellosen libanesischen Flüchtlingen. Als ich erwähnte, dass wir schon einmal geflohen waren, aus Kyrenia, winkte ein weiterer Beamter ganz in schickem Weiß unsere Kisten durch, ohne auch nur eine zu öffnen. »Willkommen in Zypern«, sagte er.
*Meister, Professor (Anm. der Übersetzerin)
3Freiheit
South Hadley, Massachusetts, USA, September 1958
Meine Flucht aus Bay City fand per Eisenbahn statt, in Begleitung von Ma, mit dem Reiseziel Mount Holyoke College. Aus einer Kleinstadt in Michigan mit 60’000 Einwohnern ging es in ein Städtchen in Massachusetts, wo nur ein Viertel so viel Menschen lebten. Ma begleitete mich bis in mein Zimmer im Erdgeschoss der Porter Hall, ein altersfleckiges Backsteingebäude mit großen Fenstern, schweren Türen und welligen Linoleumböden. Ich hatte 120 Dollar in der Tasche, mein erstes Journalistengehalt. Ich kaufte mir dafür ein rotes Fahrrad und die Freiheit, mit dem Rad den Campus und das Umland zu durchstreifen, an steilen Hügeln schwer in die Pedale zu treten und wieder hinabzuschießen.
Drei Artikel hatte ich für die Bay City Times geschrieben, über die »irakische Revolution«: Die Monarchie war gestürzt und der junge König Faisal II., sein verhasster Onkel Abd al-Ilah und Nuri al-Said waren ermordet worden. Bis zum Sommer 1957 hatte ich nichts über irakische Politik gewusst. Dann traf ich an der University of Michigan, wo ich ein zweiwöchiges Journalismusseminar für Highschool-Schüler besuchte, eine Gruppe irakischer Studenten.
Schüchtern, 41 Kilogramm leicht, das Haar raspelkurz und um die Zähne eine Spange – so wurde ich gemeinsam mit einer weiteren journalistischen Hoffnungsträgerin namens Kay zu einem Empfang für ausländische Studenten geschickt. Ich sollte interessante Leute für Interviews finden. Kay verschwand sofort. Ich stand wie festgefroren am Rande des Treffens, bis ein großer Mann mit dunklem Haar auftauchte. »Kann ich dir helfen?« Sami, ein gutaussehender, charmanter Iraki mit leichter Fistelstimme, wollte mich seinen Freunden vorstellen. Am nächsten Tag trafen wir uns in der Studentenvertretung. Dort interviewte ich Herrn Fayyad, einen kleinen fülligen Iraker mittleren Alters; Sami unterbrach das stockende Gespräch immer wieder mit gemeinen Witzen über ihn. Ich weiß nicht mehr, was ich aufschrieb oder wie es bei den Seminarleitern ankam. Bevor ich wieder nach Bay City zurückkehrte, traf ich mich noch ein paar Mal mit Sami und seinen Freunden. Mir hatte sich ein kleines Fenster auf Länder geöffnet, die ich bis dahin nicht auf der Landkarte gefunden hätte.
Im Laufe des folgenden Jahres öffnete sich das Fenster noch ein bisschen weiter. Sami, der an der University of Chicago Alte Geschichte studierte und in Michigan nur einen Sommerkurs belegt hatte, schrieb mir, sagte, ich solle den Koran lesen – was ich tat –, und schickte mir ein paar Bücher, um mich aus den Tiefen meiner Ignoranz zu holen.
Nach dem irakischen Staatsstreich vom 14. Juli 1958 fuhr ich zwei oder drei Mal nach Ann Arbor, wo ich wieder Sami und andere Irakis interviewte. Ich entdeckte, dass sie das Ende der Monarchie aus vollem Herzen begrüßten. »Nuri al-Said hat meinen Onkel an einer Laterne in Hillah aufknüpfen lassen«, sagte Sami bei einer dieser Zusammenkünfte. Wir tranken süßen Milchkaffee, den ich eigentlich nicht mochte, aber zu trinken gelernt hatte, und noch jahrelang mit diesen Diskussionen in Verbindung bringen sollte.
Außer den Irakern kamen noch andere zu diesen Treffen, Hussein, ein Kubaner, der in Harvard Arabistik studierte, und George, Ägypter, ein sanfter Mann mit zaghaftem Lächeln, der als Jugendlicher bei den Pyramiden in der Wüste geritten war. Er sollte in jenem Herbst an der Harvard Law School anfangen und überzeugte mich davon, dass Gamal Abdel Nasser unterstützenswert sei.
Die zufällige Begegnung mit einem Mann sollte den weiteren Lauf meines Lebens bestimmen. Als ich ihn fragte, woher er stamme, sagte er: »Palästina.« Wo das liege? »Neben Libanon, Syrien und Jordanien.« Ich habe noch nie von Palästina gehört, sagte ich. »Existiert auch nicht. Die haben mein Land weggegeben.« Aber wenn es nicht existiere, welchen Pass habe er dann? »Einen britischen.« Ich erfuhr nie seinen Namen und sah ihn nie wieder.
»Die haben mein Land weggegeben.« Diese Worte sollten mich viele Jahre lang beschäftigen.
Sobald ich wieder zu Hause war,