EINSICHT in UNerhörtes. Dr. Manfred Nelting
nicht mehr zur Ruhe kommen.
Insgesamt leidet mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter solchem Dauer-Stress, fast drei Viertel der arbeitenden Erwachsenen in Berlin beispielsweise haben keinen erholsamen Schlaf mehr (Studie der DAK, siehe auch S. 148).
Schauen wir uns einige Stress-Gründe genauer an.
2.1.2 Beziehungs-Stress und Trennungen
Gut drei Viertel der Menschen in Deutschland leben in der aktuell üblichen Familienform mit Mutter, Vater oder mittlerweile auch gleichgeschlechtlicher/m PartnerIn und einem oder mehreren Kindern zusammen. Das sagt noch nicht viel über die Atmosphäre in den Familien aus. Denn es gibt immer mehr Menschen, die abnehmende Beziehungs-Kompetenzen haben, nicht mehr in sich ruhen oder im Dauer-Stress leben. Dazu tragen Beziehungskonflikte und häufiger Streit ebenso bei wie der Stress aus den Arbeitsverhältnissen.
Die durchschnittliche Ehedauer in Deutschland beträgt etwa 15 Jahre. Aktuell werden knapp 38 % der Ehen wieder geschieden, etwa 150.000 pro Jahr. Die Eltern der Hälfte davon haben minderjährige Kinder, darunter 20 % mit Kindern zwischen null und fünf Jahren.
Das sind jährlich 15.000 kleine Kinder, die aus ihrer noch märchenhaften Welt durch eine Scheidung herausgerissen werden, auch wenn nach langem Streit oder deutlich gewordener Unvereinbarkeit der Lebensvorstellungen der Eheleute dies auch für einige Kinder so besser ist.
Hinweisen möchte ich darauf, dass in Schweden, wo es schon lange eine Elternzeit für Väter gibt und dies dort auch deutlich genutzt wird, ein deutlich geringeres Scheidungsrisiko bei Paaren besteht, wenn Väter diese Elternzeit genutzt haben.
Die genannten Zahlen sind ein Anhaltspunkt für die Auswirkungen auf Eltern und Kinder, denn die Häufigkeit von Trennungen von Paaren ohne Eheschließung ist statistisch nicht klar erfasst und wird je nach Einstellung zur Ehe als häufiger oder weniger häufig angegeben.
Etwa 17 Millionen Menschen leben in Singlehaushalten, davon sind 1,5 Millionen Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Singlehaushalte sind nicht unbedingt von Beziehungs-Stress befreit. Die Single-Situation ist von vielen frei gewählt, von vielen anderen aber nicht. Sie entstehen auch häufig aus Trennungen. Und Stress aus dann nachlaufenden streitbefangenen Themen wie Sorgerecht, Unterhalt, Besuchsregelungen sind sehr häufig. Dazu kommt der Stress durch die Mehrfachbelastung und regelhaft Belastung durch ein schlechtes Gewissen, dass man den Kindern nicht gerecht wird. Und sicherlich auch Stress bei der eventuellen Suche nach einem neuen Partner.
Trennung ist natürlich etwas, das in der Regel nicht gelernt wurde, also auch dann nicht unbedingt gekonnt wird. Notwendig ist es, neben der jeweils eigenen Perspektive der einzelnen Eltern eine gemeinsame Perspektive auf das seelische Erleben des Kindes aufzubauen. Kinder sind, auch wenn sie zu einem Elternteil tendieren, innerlich immer zu beiden loyal und in Liebe bzw. bei Trennung innerlich oft stark belastet. Für Kinder ist es also unbedingt wichtig, dass die Eltern dabei bleiben, dass es eine Liebe als Paar gab, dass sie nicht schlecht über den anderen reden und dass sie das Kind nicht in der Paar-Auseinandersetzung benutzen, dafür in einem Rosenkrieg missbrauchen und/oder das Kind vor unlösbare Aufgaben stellen.
Gelingende Trennung wird dann zwar Arbeit, aber eine gute Arbeit für die Eltern und sie ist gut, weil das Kind dann die beiden innerlich noch zusammen fühlen kann. Andernfalls wird es in der Regel irgendwann krank. Der Zusammenhang wird dabei wegen des oft zeitlich großen Abstands einer Krankheit des „Kindes“ zur damaligen Trennungs-Situation der Eltern und fehlendem psychosomatischen und systemischen Wissen nicht bzw. sehr verspätet erkannt.
Was Trennung für Kinder bedeutet, darüber muss also in der Gesellschaft geredet werden und ggf. wird hier Unterstützung gebraucht (siehe auch Kapitel 4 und 5). Wie gesagt, die Elternzeit der Väter hat offenbar einen stark stabilisierenden Effekt auf die Paarbeziehung.
2.1.3 Stressrelevante Einflüsse der Digitalisierung
Die Digitalisierung z. B. findet in ungebremster Beschleunigung statt und ergreift alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Grenzen, Werte und Verantwortung sind der Technologie nicht immanent. Dies bleibt den Menschen als Einzelne und der Gesellschaft als Ganzes überlassen. Dabei ist die Steuerungskompetenz der einzelnen Menschen eben sehr unterschiedlich, die Steuerungskompetenz der Gesellschaft erscheint sehr unzureichend und läuft der Entwicklung hinterher.
Die aktuelle Hirn- und Zellforschung lehrt uns nun heute, dass Risiken der Digitalisierung z. B. bei Fehlnutzung von digitalen Medien im Körper und in den Zellen Schäden anrichten können (siehe Kapitel 3). Dies findet insbesondere dann statt bzw. potenziert sich, wenn Menschen in Überforderung, Erschöpfung und Burn-out sind. Dies unterstreicht noch einmal die Balance-Notwendigkeit durch souveräne Mediennutzung, also Medienresilienz für jeden heutzutage.
Kompetenz zur Selbststeuerung
Für die Frage möglicher pathogener Wirkfaktoren in der Digitalisierung ist es also im Besonderen bedeutsam, ob jemand in guter Selbststeuerung souverän für sich ist, z. B.:
•in der Balance von online und offline,
•in der vegetativen Balance (sichtbar beispielsweise in der Messung der Herzratenvariabilität),
•in der Balance von sofortiger Bedürfnisbefriedigung und Befriedigungsaufschub,
•aber auch in der Erfüllung von eigenen und fremden Erwartungen beim sogenannten Arbeiten 4.0 (der neuen digitalbedingten Arbeitsorganisation mit flex desk, home office u. a.)
•im bewussten und zur Person passenden Vernetzungsgrad online (Smarthome), der noch Kontrolle bzw. Transparenz des Datenflusses aus der Privatsphäre zulässt.
Souveräne Menschen profitieren dann im positiven Sinne im Rahmen eigener Entscheidungen von den Möglichkeiten der neuen Technologien, viele können sie sinnvoll und bereichernd in ihr Leben einbauen.
Bei Menschen mit fragilen und schutzbedürftigen Persönlichkeitsanteilen bzw. fehlender Souveränität im Alltag sind Ängste oder Ignoranz in Bezug auf die Digitalisierung dagegen häufig und ausgeprägt. Aber diese Menschen verhalten sich dabei gerade so, dass sie die Kontrolle und Selbststeuerung aus der Hand geben und so ihren eigenen Ängsten Auftrieb geben. Hier ist Aufklärung und Beschäftigung in der Schule und auch politisch zur Digitalisierung zu betreiben (Kapitel 4 und 5).
2.1.4 Stress-Faktor permanente online-Einbindung
Es werden in der Digitalisierung zunehmend gesundheitlich bedenkliche Entwicklungen bei einer gesellschaftlich relevanten Zahl von Menschen identifiziert, bei der die Art der digitalen Nutzung eine Rolle spielt, wie Stresszunahme durch permanente Smartphone-Erreichbarkeit oder wie die Zunahme der stressbasierten Adipositas, die aber u. a. auch direkt als weitere Folge des Bewegungsrückgangs z. B. bei vielstündigem Gebrauch digitaler Medien am Tag gesehen wird.
Die Bedeutung ständiger Erreichbarkeit durch Smartphones als Stresswirkung fordert insofern vom Einzelnen hohe Kompetenzen in der vegetativen Balancierung, u. a. durch ausreichende Pausen und guten Schlaf. Im klinischen Kontext sehen wir dies bei den meisten unserer Burn-out-Patienten als eines der gravierenden Themen.
Durch die enorme Beschleunigung digitaler Technologien (rasche Innovationsschübe, kurzfristig aufeinanderfolgende Restrukturierungen in Unternehmen) mit zunehmender Eroberung aller gesellschaftlichen