EINSICHT in UNerhörtes. Dr. Manfred Nelting

EINSICHT in UNerhörtes - Dr. Manfred Nelting


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gelingt die Bewältigung der sich ständig ändernden Anforderungen vielen Menschen oft nicht mehr.

      Ältere Menschen hatten ihre Kompetenzen für andere, vielfach analoge Prozesse in der Gesellschaft erworben, jüngere Menschen haben ihre Alltagskompetenzen oft nur fragil oder nicht ausreichend ausgebildet.

      Die digitalen Anforderungen wirken insofern dabei vielfach als zusätzlicher Stressfaktor. Hat der Betroffene dafür keine ausreichende Bewältigungs-Kompetenz, ist Krankheit die häufige Folge, insbesondere im Rahmen von Burn-out-Prozessen und anderen Stressfolge-Erkrankungen.

      Wir wissen, dass Menschen in Burn-out-Prozessen ihre Souveränität in vielen Belangen des Alltags und der Anforderungserfüllung am Arbeitsplatz verlieren. Dies gilt insbesondere, wenn der Anforderungsdruck zunimmt, wie es durch z. B. Alleinerziehung, Pflege von Angehörigen, Mehrfachbelastung von Frauen, aber auch Arbeitsverdichtung, Restrukturierung und Personalverringerung häufig der Fall ist. Dabei werden Arbeitsplätze flexibilisiert, gehen gewohnte Kollegenkontakte verloren und das dauernde Erlernen neuer digitaler Techniken überfordert viele, da sie in kürzester Zeit beherrscht werden müssen. Hier ist die Steuerungskompetenz der Gesellschaft mit der Politik gefragt, die sie allerdings bisher nicht ausreichend wirksam erfüllt.

      Stressrelevante Einflüsse in der Digitalisierung (Beispiele):

      •ständige Erreichbarkeit (verordnet oder selbstinitiiert, „Revierstress“)

      •mehrstündige Bildschirmpräsenz (Computerarbeit, Online- oder Smartphone-Nutzung) ohne Pausen

      •Ängste vor Verlusten und dem Vergessenwerden bei Social-Media-Kontakten

      •Missbrauch von mitgeteilten intimen Daten, Texten, Bildern, Videos, also soziale Nötigung und Cybermobbing

      •Ängste vor Ausspähen der Privatsphäre

      •Unterbrechungs-Stress durch Smartphone-Kontrolle (100-mal +/- täglich)

      •Schlafstörungen durch Fehlnutzung (Überdosis, Online am Bett etc.)

      Wie man heute krankheitsförderlichen Dauer-Stress diagnostizieren kann, dazu Kapitel 5, S. 420.

       2.1.5 Stress durch Informationsüberflutung – News/Fake News

      Heutzutage werden wir von Informationen, meist als News verpackt, überschwemmt. Das Wesentliche herauszufiltern, weiterhin die Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, das hat niemand gelernt und aktuell hat auch niemand dafür Zeit, weil ja schon die News und ihre Wirkung zusätzlich zur knappen Zeit den Rest der Zeit aufsaugen. Im Übrigen bräuchte man auch dringend Zeit zur Verarbeitung der Resonanz auf die massenhaften Inhalte ohne klaren Kontext.

      Facebook gibt es seit 2004, Twitter seit 2006, WhatsApp seit 2009, Instagram seit 2010. Die massenhafte Zunahme erfolgte seitdem exponentiell, sodass die Social-Media-Kanäle der Hauptverbreitungsweg von Online-Nachrichten geworden sind.

      Zeitungen werden dabei rasch immer unwichtiger, Fernsehen ist für die Alten und Abgehängten, Streaming-Plattformen und Social-Media-Kanäle sind bereits die Norm, aber niemand hat gelernt, damit umzugehen. Unsere Welt ist also eine Medienwelt ohne Bodenkontakt und ist dazu geeignet, die Menschheit zu desorientieren, weil die News nichts miteinander und ebenfalls nichts mit den Menschen zu tun haben. Vielmehr transportieren sie nebenbei unbemerkt Werbung. Desorientierung bedeutet immer starken Stress, das Gehirn wird in einen Alarmzustand versetzt, weil solche Desorientierung als Bedrohung empfunden wird.

      Gleichzeitig sinkt aber auch die Verfügbarkeit der direkt angezeigten Infos rapide, bei Twitter z. B. aktuell nur noch 30 Minuten, sodass ein Nutzer ständig dranbleiben muss, um nichts „Wichtiges“ zu verpassen. Zum späteren Nacharbeiten bleibt sowieso keine Zeit, weil es ja rasend schnell weitergeht.

      Viele Menschen versuchen da hinterherzukommen. Das ist aber auch mit mehrstündiger Online-Präsenz nicht zu schaffen, man ist also immer auf der Verliererstraße und arbeitet sich ggf. ins Burn-out.

      Das Gehirn braucht also eine andere Lösung für diesen Zustand:

      Die vorläufige, oberflächliche, aber dysfunktionale Lösung ist für viele, sich dauerhaft auf einige Kanäle zu beschränken, deren Botschaften sie verstehen und alles andere versuchen auszublenden. Die Fütterung des Gehirns mit von den inhaltlichen Haltungen und Einstellungen her immer gleichen Informationen spiegelt mittlerweile bei vielen Menschen eine zunehmend von der Realität abgekoppelte Welt vor, wirkt insofern manipulativ. Das fordert keinen Dialog mit Menschen anderer Einstellung an, sondern eher Abgrenzung, um nicht unsicher zu werden, mehr noch Abstumpfung, Desinteresse an gesellschaftlicher Aktivität und Entwicklung und resignativem Abtauchen in Social-Media-Kanäle und andere virtuelle Welten. Die großen Internet-Konzerne fördern dies ja geradezu als Geschäftsmodell.

      Bei den kommenden Herausforderungen des gesellschaftlichen und klimabedingten Wandels folgt daraus eher Ohnmacht, Krankheit oder Aggressivität bis hin zum Extremismus.

      Durch diese Pseudolösung gewinnt man also doch keine Zeit und bleibt überflutet, aber von nun schon bekanntem Wasser. So entsteht eine Parallel-Community, die dauernd die selben Fernsehsender sieht, die selben Streaming-Dienste nutzt und die selben Internetplattformen, die im Weiteren über ihre Algorithmen garantieren, dass keine verunsichernden Nebenthemen auftreten.

      Das fördert dann auch den Boden für Verschwörungserzählungen, weil andere Erzählungen als mögliches Korrektiv aus dem Blick sind.

      Allerdings kennt wohl jeder den Wunsch für ihre/seine Meinungen und Sicht der Welt Bestätigung in seiner Umgebung zu bekommen. Aber es bleibt ja doch bei den meisten eine Offenheit und auch Interesse für Anregungen durch anderslautende Meinungen und Informationen. Problematisch wird es jedoch wie gerade beschrieben, wenn sich der Fokus immer weiter einengt und andere Informationen als die für sich „festgestellten“ ausgeblendet werden.

      Dann steuert ein Mensch auf einen Kipp-Punkt zu, der eine Rückkehr zu einer offeneren Haltung stark erschwert. Es ist also im demokratischen Gemeinwohlwesen sehr wichtig, in Gesprächen und Kontakten mit diesen Menschen zu bleiben und zu sein, bevor solche Kipp-Punkte auftreten.

      Dabei ist es nicht unbedingt erforderlich, Menschen argumentativ umzustimmen – das fördert oft eher eine Abwehrhaltung – vielmehr dreht es sich um ein Zusammensein, das den anderen wertschätzt und eine z. B. vorhandene Sympathie mitteilt und austauschen kann. Dann kann auch das eine oder andere Argument gewechselt werden und wenn das freundlich geschieht, mag es immer wieder den Charakter einer Brücke haben, die beizeiten genutzt werden kann.

      Eltern haben also mit dieser Lösung durch Einengung auf immer gleiche Informationskanäle für den Umgang mit News letztlich immer noch keine Zeit für ihre Kinder und können kein Vorbild für sie sein.

       Desinformations-Mechanismen im Internet

      Und es finden sich ja außer den beschriebenen Algorithmen auch noch andere Desinformations-Mechanismen wie digitale „Sockenpuppen“, „Social Bots“ und digitale „Trolle“:

      •Sockenpuppen sind zusätzliche Fake-Accounts, mit denen Menschen z. B. ihre Likes oder Dislikes oder aber Meinungen oder auch Verunglimpfungen verdoppeln oder vervielfältigen. Sie unterlaufen letztlich Regeln, die der unbefangene Internet-Nutzer als gegeben annimmt. Eine Identifizierung solcher Fake-Accounts als solche ist oft nicht möglich.

      •Social Bots sind automatisierte Computerprogramme (bots von Roboter), die menschliche Wesen in Fake-Accounts vortäuschen. Sie reagieren auf Keywords und geben dann vorgefertigte Antworten oder führen mit jemandem fiktive Gespräche. Sie imitieren menschliches Verhalten, verschicken Freundschaftsanfragen, können Social-Media-Accounts von Menschen überfluten, ein Cybermobbing auslösen, ein Produkt besonders loben oder schlecht machen oder das Internet zu bestimmten Fragen majorisieren, sodass das Thema groß und wichtig aussieht. Es kann unerkannt


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