Befreie dich durch Selbstliebe. Teal Swan

Befreie dich durch Selbstliebe - Teal Swan


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      Teal, das Versuchskaninchen

      Viele große Geister, beispielsweise Benjamin Franklin, Jonas Salk und Albert Hofmann, probierten ihre Hypothesen selbst an sich aus. Auch ich habe das mit meinen Ideen immer so gemacht. Und so stand ich am Tag, nachdem ich diesen Einfall hatte, in der Küche und war leicht panisch. Sicher, ich ließ keinen Drachen in einem Gewittersturm fliegen wie Benjamin Franklin, aber mein ganzer Körper schrie: »Lauf weg!«, als ob ich einen Riesenfehler machte.

      In mir tobte ein Kampf, als ich das Wasser ins Glas goss und alles, was ich an meinem Sohn so liebte, in dieses Wasser fokussierte. Als die Zeitschaltuhr nach fünf Minuten klingelte, hob ich das Wasserglas an meine Lippen und trank das Wasser wie eine Arznei, so schnell ich konnte. Ich dachte, ich würde mich auf der Stelle besser fühlen und voll innerer Freude sein. Aber da hatte ich mich gründlich getäuscht! Ich fing an zu zittern, und mir wurde schlecht. Mein ganzer Körper war in Aufruhr, aber anstatt mich zu übergeben, begann ich zu schluchzen. Mein Körper reinigte sich von jahrelang angestautem Kummer und Leid, und ich hatte buchstäblich das Gefühl, als hätte ich ein Abführmittel genommen.

      Gut 20 Minuten lag ich wie ein Fötus auf dem Küchenboden und weinte. Allmählich klang das Schluchzen ab, und ich verspürte eine überwältigende Erleichterung, fühlte mich geerdet. Bei einem Spaziergang empfand ich das allererste Mal eine Ahnung von innerem Frieden. Es hatte nichts mit ekstatischer Begeisterung zu tun, aber ich versuchte auch nicht mehr verzweifelt, vor mir selbst wegzulaufen. Also beschloss ich, mit meinem kleinen Experiment weiterzumachen, und zwar jeden Tag, einen Monat lang immer zur selben Zeit.

      In der ersten Woche reagierte ich immer gleich. Das Wassertrinken war wie eine chemische Reaktion, bei der zwei sich heftig bekämpfende Energien in meinem Körper einen Krieg miteinander ausfochten. Danach ließen die Reaktionen auf meine »Übung« allmählich nach. Ich war dabei, mich der mir unvertrauten Frequenz der Liebe anzupassen.

      Dann passierten immer wieder seltsame Dinge. Auch im Außen fanden Veränderungen statt. Ich lobte einem Freund gegenüber meine Kochkünste; das hätte früher sofort eine Spirale des Selbsthasses und der Schuldgefühle in mir ausgelöst, doch diesmal fühlte es sich nicht falsch an. Ich probierte es mit Affirmationen und stellte fest, dass es nicht mehr ganz so schwierig war, sie zu glauben. Ich konnte sagen: »Ich mag die Farbe meiner Haut«, und meinte das auch so. Die wütende Stimme in meinem Kopf, die immer so Sachen sagte wie: »Kein Mensch kann dich lieben, du bist einfach zu schwierig«, oder: »Ausgerechnet du musst das sagen«, oder: »Na, da hast du Dummkopf ja mal wieder was Schönes angerichtet« – diese Stimme verstummte nach und nach. Und auch meine Angst wurde weniger.

      Das erinnerte mich daran, wie ich einmal vor Jahren zufällig ein Interview im Radio hörte, als ich über Land fuhr; ich werde nie vergessen, was dabei über die Buchstaben des Wortes »Anxiety« (Angst) geäußert wurde. Wenn man die Buchstaben anders anordnet, entsteht »any exit« (»irgendein Ausweg«). Angst ist der Versuch, irgendeinen Ausweg zu finden, um zu entkommen. Wie ich erkannte, war die Ursache meiner Angst mein Versuch, einen Ausweg zu finden, um vor mir selbst zu flüchten. Mit zunehmendem »Training« in Selbstliebe schwand allmählich mein Wunsch, vor mir davonzulaufen, und damit auch meine Angst.

      Durch das Trinken von Wasser, das mit Liebe getränkt worden war, gewann ich durch die Hintertür Zugang zu meinem Selbsthass; damit wurden für mich auch die anderen Selbstliebe-Übungen einfacher. Ich hatte sozusagen durch die Hintertür die dicken Mauern eingerissen, die die Liebe abwehren sollten, und von diesem Zeitpunkt an konnte ich mich der Selbstliebe auch durch die Vordertür nähern. Ich machte mich an die Aufgabe, das perfekte Rezept für Selbstliebe zu entwickeln und dafür alle einzelnen Zutaten zu identifizieren.

      Schluss mit dem Ritzen

      Körperlich schwächte mich mein Selbsthass vor allem aufgrund meiner Sucht nach Selbstverletzungen durch Schnitte, und das war meine nächste große Hürde. Seit ich elf Jahre alt war, war ich süchtig danach, mich selbst zu verletzen. Endorphine blockieren das Schmerzempfinden und spielen auch bei Gefühlen der Erleichterung und der Lust eine Rolle. Sie haben eine ähnliche Wirkung wie Kodein oder Morphium. Wenn Endorphine an die Opioidrezeptoren im limbischen System andocken, zu dem auch der Hypothalamus gehört, empfinden wir Erleichterung, Lust und Befriedigung und fühlen uns ruhiger und mit positiver Energie aufgeladen.

      Es ist so: Wenn der Körper Schmerz verspürt, werden im Gehirn Endorphine freigesetzt; sie lindern den Schmerz und laden uns mit Energie auf, sodass wir uns in Sicherheit bringen können. Die Schnitte, die ich mir zufügte, linderten also meine negativen Emotionen. Es ist ein Bewältigungsmechanismus, durch den intensive Gefühle wie Angst, Schuld, Niedergeschlagenheit, Stress und emotionale Gefühllosigkeit zeitweilig gemildert werden, desgleichen Versagensgefühle, Selbstverachtung, mangelndes Selbstwertgefühl oder Perfektionsdruck.

      Genauso, wie man süchtig nach einer Droge werden kann, kann man auch süchtig werden nach den chemischen Stoffen, die der eigene Körper in Reaktion auf bestimmte Dinge produziert. Sobald der Akt des Ritzens mit dem damit einhergehenden Gefühl der Erleichterung assoziiert wird, werden im Gehirn neurale Pfade aufgebaut, die die betroffene Person automatisch dazu zwingen, beim Fühlen negativer Emotionen nach Erleichterung zu suchen, in diesem Fall durch Ritzen.

      Dieses Gefühl ist mir zutiefst vertraut. Wie ein eingesperrtes Tier, so sind Menschen, die sich selbst mit Schnitten verletzen, in einem Gefängnis, in dem negative Emotionen, insbesondere Verzweiflung, Hass und Wut, nicht ausgedrückt werden können. Solche emotionalen Zustände werden deshalb verinnerlicht. Die Energie kann nirgendwohin, außer nach innen.

      In meiner Kindheit und Jugend trug ich an der Last eines sehr großen Geheimnisses. Ich führte ein Doppelleben: einerseits das Leben mit meinen Eltern, andererseits eines ohne meine Eltern, ein krankes und verdrehtes Leben, erschaffen von einem Psychopathen, der angeblich mein Mentor war.

      Von Anfang an hatte mein Peiniger mir beigebracht, dass das Gefühl der Ruhe durch Bestrafung, entweder durch jemand anderes oder sich selbst, das Licht Christi sei, der einen von seinen Sünden freispricht. Ritzen wurde zu meinem Bewältigungsmechanismus. Immer, wenn ich mich in der Falle, schuldig, verzweifelt oder wütend fühlte, nahm ich dazu Zuflucht, insbesondere dann, wenn ich meinte, mit mir stimmte etwas nicht oder ich sei schlecht. Mit Selbstverletzungen verdeckte ich auch andere Verletzungen, die mein Peiniger mir zugefügt hatte.

      Nur eine Phase … oder doch nicht?

      Leider schürten meine Eltern ganz unabsichtlich meinen Selbstverletzungsdrang. Zu Hause waren meine Emotionen nichts wert, ich war ja als »psychisch krank« gebrandmarkt, denn meine Eltern glaubten, es gäbe überhaupt keinen Grund für mich, mich so schlecht zu fühlen, wie ich es offensichtlich tat. Sie dachten, die einzig mögliche Erklärung sei, mit mir würde etwas nicht stimmen. Eigentlich ein ganz logischer Schluss, aber er wandte sich gegen mich. Meine Eltern stützten die Vorstellung, mit mir würde etwas nicht stimmen, weil ich mir diese Schnitte zufügte, doch dadurch verstärkten sie in erster Linie den Grund dafür, warum ich das tat.

      Die Psychologen und Psychiater waren keine Hilfe, denn sie erzählten meinen Eltern immer wieder, das sei nur eine Phase, eine »Teenager-Sache«, die ich, wenn ich erst einmal 18 sei, hinter mir gelassen hätte. Doch dann wurde ich 18 und ritzte mich immer noch. Daraufhin versicherten sie, mit 25 sei es vorbei. Doch ich wurde 25 und fügte mir nach wie vor Schnitte zu. Nun hieß es, sobald ich selbst Mutter sei, sei Schluss damit. Doch ich wurde Mutter und hatte immer noch gelegentliche Rückfälle. Und natürlich gaben meine Eltern irgendwann auf. Ich probierte alles aus, was an Vorschlägen so kam, um damit aufzuhören, und unter Umständen wäre ich vielleicht immer noch damit beschäftigt, wenn ich nicht mein inneres Kind kennengelernt hätte.

      Bei einer der wichtigsten Techniken der Traumaintegration lässt man die Klienten bewusst zu ihren traumatisierenden Erinnerungen zurückgehen, das kindliche Selbst aus all diesen Erinnerungen erlösen und diese kindliche Version der eigenen Person an einen sicheren Ort bringen, um es dort neu zu »beeltern«.

      Nachdem ich meinen Fall bei der Polizei angezeigt hatte, erhielt ich als Opfer eines Verbrechens etwas Geld als Entschädigung, welches es mir ermöglichte, die führende Traumaspezialistin des Bundesstaates aufzusuchen, die warmherzigste


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