Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis

Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis


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erlebbar wird. Sie ist aber auch und vor allem der καθ?λικον σόκα του ιριστου, d.h. der ganze pneumatische Leib Christi, durch den die Gläubigen mit Gott verbunden werden. Einzig die vier im Glaubensbekenntnis benannten notae ecclesiae markieren bis heute die dogmatischen Grundlinien der Ostkirchen, die die einzelnen autokephalen Kirchen zu realisieren suchen.85 Die Katholizität der Kirche garantiert dabei einerseits die der Kirche von der Trinität her zukommende Heilsfülle, andererseits demonstriert sie deren sichtbare Einheit. Sie tut dies in einer sowohl quantitativen als auch qualitativen Weise, wobei in der ostkirchlichen Tradition die qualitative Dimension stärker betont wird als die quantitative. Dabei wird die Katholizität nie losgelöst von den anderen drei notae betrachtet.86

      Die quantitative Dimension der Kirche resultiert nach orthodoxem Verständnis aus ihrer Sendung, allen Menschen an allen Orten und zu allen Zeiten das Evangelium Jesu Christi zum Heil der ganzen Welt zu verkünden (vgl. Apg 1,8; 13,47; Mt 28,19f, Joh 10,16). Dadurch, dass die Kirche gemäß ihrer Sendung gehandelt hat, ist sie faktisch an vielen Orten präsent und für alle Menschen zu allen Zeiten die eine, wahre und katholische Kirche Jesu Christi. Dies wird äußerlich am deutlichsten in ihrer autokephalen Struktur: In den selbständigen Ortskirchen findet die Universalkirche Eingang in die je unterschiedlichen Völker, ohne dabei ihre pneumatische Einheit als der eine Leib Christi und ihre durch Christus im Heiligen Geist geschenkte Heilsfülle Gottes einbüßen zu müssen. Auch wenn die enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche sowie das entwickelte Autokephaliesystem die quantitative Dimension der Katholizität im Laufe der Jahrhunderte schwächte und vernachlässigte, verlor diese nie an theologischer Bedeutung, sondern formte sich je neu heraus.87

      Die qualitative Dimension der Katholizität resümiert aus einem Urbild-Abbild-Denken, nach welchem die Katholizität der Kirche qua natura von Gott her gegeben ist, die Fülle und das Heilshandeln der ökonomischen Trinität widerspiegelt und diese geschichtlich fortsetzt, bis sie – schon jetzt durch den Heiligen Geist das ewige Leben der göttlichen Fülle innehabend – im Eschaton einst vervollkommnet wird.88 Die Kirche als Stiftung und Abbild Gottes ist mit „derselben Wirkkraft wie er [sc. Gott], freilich in Nachahmung und Nachbild, ausgerüstet“89 und verinnerlicht die in ihm zuteil gewordene innertrinitarische Universalität, die ihr je neu in den Sakramenten – vor allem aber in der Eucharistie – zukommt.90 Damit ist die qualitative (intensive) Katholizität weder eine abstrakte Eigenschaft noch eine platonische Idee, sondern Verwirklichung der in Christus geschenkten Heilsfülle.91

      Die Eucharistie ist der Ort, an dem die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen sakramental begründet sowie liturgisch vollzogen wird. In ihr verwirklicht sich ontologisch die Heilsfülle der Kirche im Heiligen Geist.92 Daher verwirklicht sich nach orthodoxem Verständnis Kirche primär in jeder Ortskirche, d.h. an jedem Ort, wo die im Namen Jesu versammelte Gemeinde in Gemeinschaft mit ihrem Bischof vereint Eucharistie feiert. Die Eucharistie ist dabei nicht zu trennen vom bischöflichen Amt. Denn die Gemeinschaft mit dem Bischof ist notwendige Voraussetzung dafür, dass die Versammlung der Gläubigen tatsächlich Eucharistiegemeinschaft wird.93 Der Ortsbischof vergegenwärtigt durch seinen eucharistischen Dienst nicht nur die Gegenwart Christi in den eucharistischen Gaben, sondern sichert jeder Eucharistie feiernden Ortskirche zugleich die Fülle des Heils sowie die Einheit der Kirche, letztlich deren Katholizität, zu. Jede Eucharistiegemeinschaft ist, wo sie sich um ihren Bischof im Heiligen Geist versammelt, durch den Dienst des Bischofs und nur durch diesen Kirche im vollen Sinne, d.h. „katholische“ Kirche in ihrer originären Erscheinungsform: autokephaler Teil der sichtbar-institutionellen Universalkirche. Der Bischof ist die Bedingung der Möglichkeit der Katholizität jeder Ortskirche und ermöglicht ihnen, aber auch jedem einzelnen Gläubigen, Anteil an der Einheit sowie an der Katholizität der Kirche.94

      Zu dieser Katholizität der Ortskirchen kommt unzertrennlich und notwendig die Katholizität der Universalkirche hinzu, welche als Gemeinschaft von Ortskirchen verstanden wird, die durch den gemeinsamen Glauben, die gemeinsame Feier der Liturgie und die Gemeinschaft der Bischöfe untereinander verbunden sind.95 Die Universalkirche gibt dem orthodoxen Episkopat seine kollegiale Ordnung und eint die Ortskirchen im Glauben sowie im Ritus, ohne dass die Gleichberechtigung der Bischöfe untereinander sowie die Selbständigkeit der einzelnen Ortskirchen geschmälert werden. Dabei stehen ekklesiale Einheit und Vielfalt oft in einem inneren Spannungsverhältnis. Dies belegen etwa immer wieder aufkeimende Differenzen zwischen den – verallgemeinernd gesagt – griechischsprachigen und slawischsprachigen Ostkirchen.96 Nichtsdestotrotz garantiert der jeweilige Ortsbischof durch seinen eucharistischen Dienst einerseits die Katholizität der Ortskirche, andererseits ermöglicht er als Bindeglied zu den anderen Ortskirchen die Katholizität der ganzen universalen Kirche. Die Katholizität einer Ortskirche verliert sich, wo sie nicht mehr eingebunden ist in die Katholizität der Universalkirche, oder anders gesagt: Eine Ortskirche hört dort auf, katholisch zu sein, wo sie entweder nicht mehr in Gemeinschaft mit ihrem Bischof oder wo ein Ortsbischof nicht mehr in Gemeinschaft mit den anderen Bischöfen steht.

      Das Verhältnis von Ortskirchen und Universalkirche bzw. von kirchlicher Vielfalt und Einheit ist nach ostkirchlichem Verständnis im trinitarischen Wesensverständnis der Kirche grundgelegt. Nach diesem wird die Kirche als „Ikone der Trinität“ verstanden, gemäß einer Urbild-Abbild-Dialektik als Abbild der göttlichen Dreifaltigkeit: „Die Einheit und Vielfalt der Kirche ist Ausfluss der trinitarischen Wesenseinheit und der personalen Vielfalt der Dreieinigkeit.“97 Analog der Einheit der drei göttlichen Personen durchdringen sich Ortskirchen und Universalkirche in einer Art Perichorese gegenseitig und kennen keine Präexistenz sowohl der einen als auch der anderen. Beide Größen sind in der einen, beide Erscheinungsformen der Kirche gleichermaßen durchdringenden inneren Katholizität begründet.98

      Ausdruck der sowohl für die Katholizität der Ortskirchen als auch für die der Gesamtkirche notwendigen Kollegialität der Bischöfe ist die Synode, auf der die von ihrem Amt her völlig gleichrangigen Ortsbischöfe zusammenkommen und Dinge regeln, die entweder eine oder mehrere Ortskirchen oder die Universalkirche betreffen.99 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die als „Sobornostj“ bezeichnete und im 19. Jahrhundert in Russland entwickelte Lehre von der Konziliarität bzw. Synodalität der Kirche. „Sobornostj“ kann sowohl mit „Katholizität“ als auch mit „Konziliarität“ übersetzt werden. Den inneren Zusammenhang beider Begriffe markiert die im russischen Glaubensbekenntnis vorgenommene Ersetzung des griechischen Wortes „katholike“ durch das russische Wort „sobornaja“ (von „sobor“ – „Konzil“).100

      Auf eine Besonderheit sei am Ende noch hingewiesen, die die Assyrische Kirche des Ostens betrifft. Diese nimmt aufgrund ihrer oben geschilderten besonderen historischen Entwicklung unter den ostkirchlichen Kirchen eine Sonderstellung ein, welche die Ökumene mit den anderen Ostkirchen nachhaltig betrifft. Denn sie steht mit den anderen orientalisch-orthodoxen sowie mit den (byzantinisch-)orthodoxen Kirchen bislang nicht in Kirchengemeinschaft. Lediglich mit der mit Rom unierten Chaldäischen Kirche pflegt die Assyrische Kirche des Ostens Kommuniongemeinschaft, was deren extensive Katholizität ökumenisch erfahrbar werden lässt.101

      Eine terminologische Besonderheit soll an dieser Stelle ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Wie alle christlichen Kirchen des Ostens sind auch die altorientalischen Kirchen bischöflich verfasst.102 Ihre Eparchien (Diözesen) unterstehen jeweils der Leitung eines Bischofs, die entweder als Metropolit, Erzbischof, Bischof oder Exarch tituliert werden. Bei der Bezeichnung des Primas unter den Bischöfen einer autokephalen Ostkirche taucht neben den Bezeichnungen Patriarch, Metropolit oder Erzbischof in einigen altorientalischen Kirchen der Titel „Katholikos“ zur Herausstellung des „allgemeinen“ (höherrangigen) Bischofs gegenüber den anderen („normalen“) Bischöfen.103 So ist diese Bezeichnung beispielsweise im Bereich der ostsyrischen Kirche seit dem fünften bzw. sechsten Jahrhundert belegt. Mit dieser Titulierung demonstrierten die ostsyrischen Bischöfe schon früh ihre beanspruchte Gleichberechtigung mit den übergeordneten Patriarchen, besonders demjenigen von Antiochia. Auch für die westsyrische Kirche ist diese Titulierung zur Bezeichnung ihres Kirchenoberhaupts gelegentlich belegt. In der Armenischen Kirche nannte


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