Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis

Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis


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der äthiopischen Kirche nannte man den Ersthierarchen zweitweise „Patriarch-Katholikos“; heute trägt er nur noch den Titel „Patriarch“.

       4.2Katholizität in den aus der Reformation hervorgegangen traditionellen evangelischen Kirchengemeinschaften

      Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchengemeinschaften verstehen sich in Kontinuität zur reinen und unverfälschten altkirchlichen „Catholica“. Sie halten „mit dem gemeinsamen Bekenntnis der alten Christenheit auch am Bekenntnis zur katholischen Kirche fest“ und erheben entsprechend ihrem jeweiligen Kirchenverständnisses Anspruch auf Katholizität. Im Folgenden seien die jeweiligen ekklesiologischen Überzeugungen der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und mit ihnen das jeweilige Verständnis von Katholizität in Grundzügen grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizziert.

       4.2.1Katholizität in evangelisch-lutherischer Sicht

      Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche verstehen – im Rückgriff auf die ekklesiologischen Ausführungen von Martin Luther (1483–1546) sowie Philipp Melanchthon (1497–1560) – die Kirche Jesu Christi als Gemeinschaft der Gläubigen (communio sanctorum), die in der Teilhabe an den Sancta (Hören auf das Wort Gottes und rechtmäßige Feier der Sakramente) kraft des Heiligen Geistes teilhaben an der Fülle Christi und in dieser Teilhabe partizipieren an der „una sancta catholica“, deren Wesen sich im jeweiligen gottesdienstlichen Vollzug erschließt.

       4.2.1.1Katholizität bei Martin Luther

      Fragt man nach Luthers Katholizitätsverständnis, so fragt man notwendiger Weise nach seinem Kirchenverständnis. Ein in sich konsistentes, systematisch entfaltetes Verständnis von Kirche lässt sich angesichts Luthers facettenreicher, vielschichtiger Persönlichkeit sowie seines umfangreichen theologischen Werkes nur schwerlich rekonstruieren.104 Es gilt als einhellige Meinung in der Lutherforschung, dass sich Luthers Kirchenverständnis stetig entwickelt hat und nicht mit einem Mal – stringent von ihm systematisch entfaltet – vorgelegt wurde. Über das Wie dieser Entwicklung allerdings herrscht Uneinigkeit.105 Dieser Tatbestand erfordert eine differenzierte und kontextuelle Betrachtung seiner Schriften und – damit einhergehend – ein angemessenes methodologisches Vorgehen.106 Es ist nicht Ziel und Aufgabe dieser Untersuchung, die Entwicklung in Luthers Kirchenverständnis darzulegen und mittels Textbefunden einhellig zu belegen. Auch kann im Folgenden nicht der derzeitige Stand der Lutherforschung daraufhin analysiert und zusammenfassend referiert werden. Daher berufe ich mich auf die Einschätzung Diez’, Luthers Kirchenverständnis sei von den zentralen Aussagen seiner Theologie nachhaltig mit bestimmt worden107, was allerdings die Frage nach dem Zentralen dieser „seiner“ Theologie auf den Plan ruft.

      Martin Brecht meint „bei der Christologie in ihrer Verbindung mit der Rechtfertigungslehre als dem Zentralsten“108 einen Kristallisationspunkt der lutherischen Theologie ausfindig machen zu können. Friedrich Janssen indes sieht einen solchen in der Schnittstelle zu erkennen, den Luthers „Gottes- und Menschenlehre bilden, nämlich in der theologischen Anthropologie, in deren Zentrum das Gott-Mensch-Verhältnis steht. Nirgendwo sonst finden sich die Essentials der theologischen Konzeption des Reformators so komprimiert wieder wie in der Frage nach der Beziehung zwischen Gott und Mensch.“109 Gleich welche theologischen Abhandlungen Luthers man zum Zentralsten seiner Theologie erhebt, gilt: In der Weise, wie sich die Ansichten Luthers zu verschiedenen Topoi der Theologie herausbilden, entwickelt sich auch sein Kirchenverständnis. Dieses wiederum dürfte am Nachhaltigsten von der Rechtfertigungsproblematik beeinflusst worden sein.110

      Bezüglich der uns interessierenden Frage nach der Katholizität der Kirche lässt sich konstatieren, dass Luther diese überall da mit aussagt, wo er – in Absetzung von der römischen Kirche – sein Kirchenverständnis entwickelt. Zwei Grundannahmen lassen sich in seinem Katholizitätsverständnis ausfindig machen:111

      Erstens hat es für Luther stets nur eine Kirche gegeben, nämlich die „eine heilige catholica oder christliche Kirche“112, womit er die alte Kirche der Apostel und der Urkirche meint, in deren Kontinuität er die aus der Reformation hervorgegangen Kirchen im Gegensatz zu häretischen und vom wahren Glauben abgefallenen Gruppen sieht und deren Zugehörigkeit sich im Katholischsein erweist. Luther spricht auch der römischen Kirche dieses Katholischsein nicht eo ipso ab, sieht sie jedoch – weil zu verweltlicht und in sich verdorben – als reformierungsbedürftig an.113 Katholisch ist nach Luthers Auffassung, „der mit dem Haufen ist und mit der ganzen Versammlung stimmet im Glauben und im Geist“114. Hiermit hebt er neben der geographischen und anthropologischen Bedeutung der Katholizität, welche ihn das griechische καθολικόϛ unglücklicherweise mit „christlich“ übersetzen lassen, vor allem die offenbarungstheologische Bedeutung in den Vordergrund: Niemand soll eine „Lehre annehmen, die nicht Zeugnis hat von der alten reinen Kirchen, dieweil leichtlich zu verstehen ist, daß die alte Kirche hat alle Artikel des Glaubens haben müssen, nämlich alles, so zur Seligkeit nötig ist“115.

      Die zweite Grundannahme fußt in seinem sich entwickelnden Kirchenverständnis, das – wie bereits angemerkt – von seiner Rechtfertigungslehre nachhaltig geprägt wurde. Ausgehend von einem akzentuierten (verborgenen und alleinigen) Heilshandeln Gottes in Jesus Christus (Theozentrik), welches Luther – mit Blick auf sein Verständnis der Idiomenkommunikation – einer monophysitischen Verkürzung in seiner Christologie verdächtig macht116, entfaltet er eine Rechtfertigungslehre, die eine heilsnotwendige Mitwirkung des Menschen in Frage stellt, wenn nicht gar ausschließt117. Des Weiteren postuliert er zwei Erscheinungsweisen der Kirche: „Sub specie mundi ist die Kirche […] unsichtbar […]. Sub specie Dei und auch sub specie fidelis ist die […] eine Kirche dagegen unverborgen“118. Unter der christologisch begründeten „Verborgenheit“ der Kirche versteht Luther jedoch keine attributive Zuschreibung im Sinne einer nota ecclesiae. Vielmehr ist diese prädikativ zu verstehen als Ausdruck eines Vorgangs: Die Kirche ist eine unsichtbare, weil sie eine aus dem Wort Gottes lebende Kirche ist, in die der Mensch je neu hineinverwandelt wird. Damit aber ist die Kirche „nicht mehr im methaphysischen Sinne […] ‚sichtbare[s] Zeichen’ einer transzendenten Wirklichkeit, sondern […] ‚Anzeichen’ der unmittelbaren, verheißungsvollen Nähe des Gottesreiches mitten in Raum und Zeit.119 Ohne der Kirche eine konkrete Leiblichkeit absprechen zu wollen, bestreitet Luther zugleich eine bestimmte, als heilsnotwendig geltende und von außen klar zu definierende Ausformung dieser Leiblichkeit der Kirche: „das reich gottis […] ist nit zu Rom, auch nit an Rom gebunden, wider hie nach da, sondern wo da inwendig der glaub ist, der mensch sey zu Rom, hie odder da, Alszo das es erlogen und erstuncken ist, und Christo als einem lugener widderstrebt, wer do sagt, das die Christenheit zu Rom odder an Rom gepundenn sey, vil weniger, das das heubt unnd gewalt da sey ausz götlicher ordnung“120.

      Die wahre eine, katholische und apostolische Kirche ist für Luther eine verborgene Größe.121 Man kann die Catholica nicht „sehen“; sie ist eine „ecclesia abscondita“ und tritt nicht empirisch in Erscheinung. Man kann die Kirche lediglich glauben durch das Verbum Dei („per signum verbi“), welches allein im Heiligen Geist verständlich ist.122 Damit erteilt Luther den alten „notae ecclesiae“ als sichtbare Wesensbeschreibungen eine Absage und relativiert die Bedeutung der verfassten „ecclesia Romana“123. Wenn er vor allem in seinen späteren Schriften dennoch von sichtbaren Zeichen der wahren Kirche Christi spricht, dann aus der Notwendigkeit heraus, Orte zu benennen, wo das Wort Gottes unverfälscht gehört werden kann, und Kriterien aufzuzeigen, anhand derer die Kirche Christi sicher erkannt werden kann.124 Aus zunächst drei „symbola“ (Verkündigung, Taufe, Abendmahl) entwickelt er später sieben Kennzeichen: Verkündigung, Taufe, Abendmahl, „Schlüssel“, Ämter, Gebet und Bekenntnis, heiliges Kreuz.125 Diese Kennzeichen werden nicht als attributive Wesensbeschreibungen wie die katholischen notae


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