Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis

Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis


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kaum, die unterschiedlichen Strömungen zu einer Synthese zu führen.

       4.6Katholizität in freikirchlicher Perspektive

      Die meisten freikirchlichen Gemeinden bekennen sich zwar zur Katholizität der Kirche, messen ihr aber eine eher nebensächliche Bedeutung bei. Dies liegt unter anderem daran, dass sie ihr kirchliches Selbstverständnis ganz vom Gedanken der Ortsgemeinde her ableiten.210 Wenn jede Gemeinde, die sich im Namen Jesu versammelt und sich zu seinem Leben und seiner Botschaft bekennt, kraft seines Geistes bereits ganz und voll Kirche ist, rückt die Frage nach übergemeindlichen Strukturen und die Bedeutung einer alle Grenzen des Partikularen übersteigen wollenden Katholizität zwangsläufig in den Hintergrund. Die Ortsgemeinde wird nicht als Teil eines ekklesialen Ganzen verstanden, sondern als das Ganze im Fragment. Zwar bleibt eine Ortsgemeinde auch in freikirchlicher Sicht notwendig auf ein sie übersteigendes Ganzes verwiesen; dies aber nicht im Sinne des sakramental vermittelten „Auf-die-Universalkirche-hin“ bzw. „Von-der-Universalkirche-her“ wie in der (römisch-)katholischen Kirche. Jede Gemeinde ist vielmehr unmittelbar katholisch, weil Christi Geist in ihr wirkt und weil sie auf das Je-Größere Gottes hingeordnet bleibt.211

      Die verschiedenen Freikirchen schreiben – gleich dem ihnen zugrunde liegenden reformierten Denken, dem sie entspringen – primär der unsichtbaren Kirche Katholizität zu. Sie allein sei die wahre Kirche Jesu Christi. Weil sie „die göttlichvollkommene Gemeinschaft aller Erwählten und Wiedergeborenen aus allen Zeiten und an allen Orten“212 sei, komme nur ihr primär Katholizität zu. Von der Überzeugung getragen, dass „die verborgene Kirche als die einige und allgemeine (katholische) Kirche […] nicht nur durch ‚eine geistige und ethische Gemeinschaft mit Christo‘ […] ausgezeichnet“213 ist, sondern sich auch konkret verwirklicht, wird die jeweilige Gemeinde vor Ort, in einem nachgeordneten sekundären Sinne und streng von der verborgenen Liebesgemeinschaft aller Gläubigen in Christus her gedacht, als Verwirklichungsweise der ecclesia invisibilis verstanden. Urbild für die Ausgestaltung jeder Gemeinde ist und bleibt die unsichtbare Gemeinschaft aller Gläubigen in Christus, deren vollkommene Seinsweise zwar nie verwirklicht werden wird, wohl aber anzustreben ist.214 Aus dem streng reziproken Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche erwächst eine grundsätzliche katholische Offenheit jeder Ortsgemeinde für alle anderen Gläubigen: Wahre Kirche Jesu Christi ist sie nur dann, wenn sie offen ist für alle, die zur Liebesgemeinschaft mit Christus gehören.215 Zudem ist sie nur dann katholisch, wenn in ihr die Botschaft Jesu „verkündigt, geglaubt und in der Gemeinschaft der Heiligen gelebt wird“216.

      Ein zugrunde liegendes rein spirituelles Gemeindeverständnis bringt es mit sich, dass die Katholizität neben der grundsätzlichen Offenheit an keine formalen Strukturen wie etwa des ordinierten Amtes rückgebunden wird. Das aber bedeutet nicht, dass die Zugehörigkeit zu einer sichtbaren Gemeinde von nachgeordneter Bedeutung wäre und man auch individuell Heil finden könne. Im Gegenteil: Die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde wird als notwendige Bedingung für die subjektive Katholizität des Einzelnen verstanden: Wohnt der Geist Christi zwar in jedem Gläubigen, so „kann kein Christ für sich alleine, getrennt von anderen Christen, eine katholische Person sein. Die Gemeinschaft des ganzen Volkes Gottes kann man nur dann abbilden, wenn man in der Gemeinschaft lebt. Der Einzelne muss, um katholisch zu sein, in seiner inneren Konstitution durch eine ekklesiale Gemeinschaft bedingt sein. […] Das Stehen im Geist Christi impliziert für die Katholizität der Person somit das Stehen in einer ekklesialen Gemeinschaft“217.

      Unter den verschiedenen evangelischen Freikirchen betonen besonders die kongregationalistisch organisierten Denominationen wie etwa die Baptisten das ortsgemeindliche Moment. Im Bekenntnis des Bundes Evangelisch-freikirchlicher Gemeinden von 1977 heißt es: „Die Gemeinschaft der Gemeinde erfährt der Christ vornehmlich in der örtlichen Versammlung der Glaubenden. In ihr wird die eine Taufe auf das Bekenntnis des Glaubens hin vollzogen und das eine Brot, von dem einen Herrn gestiftet, gebrochen und geteilt. Deshalb versteht sich die Ortsgemeinde als die Manifestation des einen Leibes Jesu Christi, durchdrungen von dem einen Geist und erfüllt mit der einen Hoffnung“218. Das ekklesiologische Denken der Baptisten wie anderer freier evangelischer Gemeinden dürfte in seinen Grundzügen unter anderem von der Theologie Huldrych Zwinglis (1484–1531) bestimmt sein. Zwingli vertritt einen anthropologischen Dualismus, der aus seinem Spiritualismus sowie seiner Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, Geist und Fleisch resultiert und „sich im Antagonismus zwischen Fleisch und Geist, sinnenhaftem Wahrnehmen und Glauben ausgestaltet“219. Anders als bei Luther dominiert bei Zwingli der Glaube als „Ausdruck der gegenwärtigen Teilhabe an der Allmacht Gottes“220, aus dem heraus das Wort und die Sakramente als Hilfen für den Glauben erwachsen. Dementsprechend lehnt er eine heilsvermittelnde Dimension sinnenhafter Zeichen, so auch der Kirche, ab: Da der Mensch durch den Geist in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott steht, bedarf es keiner institutionellen sowie sakramentalen Vermittlung des Heils.221 Unter der „ecclesia invisibilis“ versteht er eine rein geistige Größe, nämlich die Gemeinschaft der im einen Glauben durch Gottes Geist geeinten „Auserwählten“; als die „ecclesia visibilis“ bezeichnet er jede Ortsgemeinde, d.h. jede konkrete Versammlung der weltweit den Glauben an Christus bekennenden Gläubigen.

      Da jede Ortsgemeinde unvermittelt, d.h. direkt von Christus her im Heiligen Geist Ekklesialität besitzt, bedarf es zum vollen Kirchesein der baptistischen Gemeinden weder übergemeindlicher Strukturen im Sinne der Universalkirche noch sakramentaler Garanten der Kirchlichkeit in Form von ordinierten Bischöfen.222 Ob unbeschadet dieser grundsätzlichen Feststellung den charakteristischen baptistischen Gemeindebünden kirchliche Realität zukommt, wird derzeit innerbaptistisch konrovers diskutiert.223 Damit steht auch die Frage im Raum, ob Katholizität nur der wahren (unsichtbaren) Kirche und ihren ortsgemeindlichen Verwirklichungsformen zukommt oder ob letzteren gerade die Katholizität abzusprechen ist, da sie diese streng an die Ortsgemeinde binden.224 Miroslav Volf spricht diesbezüglich von einem „freikirchliche[n] Katholizitätsdilemma“, das er darin begründet sieht, „dass die Freikirchen den Lokalpartikularismen und Spezialinteressen zum Opfer fallen und sich deswegen immer wieder als unkatholisch erweisen“225. Denn ein kirchliches Selbstverständnis, das neben der ecclesia invisibilis einzig den jeweiligen Ortsgemeinden Kirchlichkeit zubilligt, widerspricht damit der Katholizität, deren Wesen es gerade ist, alle Partikularismen und ortskirchlichen Grenzen zu übersteigen. Folglich sieht Volf die Katholizität und damit das wahre Kirchesein jeder Ortsgemeinde notwendig an die Gesamtheit des Volkes Gottes rückgebunden: „Die Minimalforderung der Katholizität hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Kirchen ist die Offenheit jeder Kirche für alle anderen Kirchen. Wenn sich eine Kirche gegenüber den anderen Kirchen Gottes aus Vergangenheit oder Gegenwart verschließt, wenn sie sich zu ihnen nicht hinwenden will, dann leugnet sie die eigene Katholizität. […] Jede katholische Kirche hat die Aufgabe, ihre Beziehungen mit anderen Kirchen der Gegenwart und Vergangenheit zu pflegen und zu vertiefen. Die Kirche, die sich weigern würde, dies zu tun, wäre keine katholische Kirche und damit auch überhaupt keine Kirche“226.

      Dieses das Partikulare notwendig übersteigende Moment der Katholizität ist in der Evangelisch-methodistischen Kirche stärker präsent. Die Methodisten wissen sich kraft ihrer Katholizität, die ihnen von Christus her zukommt, „befähigt und berufen, die höchste aller menschlichen Gemeinschaften darzustellen. […] Jede Einzelkirche muss daher auch an dieser Universalität Christi teilhaben, wenn sie nicht ein Ärgernis werden will; sie muss daher allen dienen und für alle offen sein. Kein Teil der Kirche darf diese Allgemeinheit so ausprägen wollen, dass er sie sich allein zuschreibt, da er sie gerade dadurch verleugnete. Das ist eben das Wesen des Sektentums, dass es unter Verleugnung der wahren Katholizität sich selber als die wahre Kirche betrachtet“227. Folglich haben sowohl die Bedeutung als auch die Herausforderungen der Katholizität für die Methodisten einen höheren Stellenwert als für die Baptisten.

      In gleicher Weise betont die Herrnhuter Brüdergemeine neben der Katholizität der unsichtbaren Kirche diejenige ihres weltweiten Netzwerkes228 und noch mehr das „Bewusstsein der radikal grenzüberschreitenden geschwisterlichen


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