Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis

Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis


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hier neben seiner konfessionellen Bedeutung zugleich die qualitative Bedeutung von Katholizität im Sinne von „Fülle“ inhärent ist, wie wir es in ähnlicher Weise bereits für UR 3,5 angenommen hatten. UR 4,3 sagt in Form einer Glaubensaussage („credimus“) der Einheit („unitatem“) das in analoger Weise zu, was LG 8 bereits von der Kirche ausgesagt hatte, dass nämlich in der (römisch-)katholische Kirchen die Einheit der Kirche des Glaubensbekenntnisses auf sakramentale Weise unverlierbar („inamissibilem“) subsistiert („subsistere“). Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, so die Überzeugung der Konzilsväter, streben in der Ökumenischen Bewegung zwar gemeinsam die vollkommene kirchliche Gemeinschaft („perfectam communionem ecclesiasticam“) noch an, die in der einen gemeinsamen eucharistischen Mahlgemeinschaft („in una Eucharistiae celebratione“) ihren Ausdruck findet. Dennoch ist die von Christus geschenkte Einheit bereits unverlierbar, d.h. auch sichtbar in der (römisch-)katholischen Kirche verwirklicht, ohne dass diese aber der Fülle nach identisch ist mit der Einheit der einen und einzigen Kirche Jesu Christi. Vielmehr untersteht die der (römisch-)katholischen Kirche eigene Einheit dem eschatologischen Vorbehalt und muss selbst noch wachsen („crescere“).299

      Unter der Voraussetzung, dass die Kirche Jesu Christi in der (römisch-)katholischen Kirche subsistiert, ohne mit ihr absolut identisch zu sein, und in der Annahme dessen, dass der (römisch-)katholischen Kirche daher ein Höchstmaß an Katholizität zukommt, ohne mit derjenigen der Kirche Jesu Christi identisch zu sein, könnte man das Adjektiv „catholica“ in UR 4,4, wo von der „vollen“ katholischen Gemeinschaft („plenam communionem catholicam“) die Rede ist, wieder in einem doppelten Sinne lesen, nämlich sowohl in einem rein konfessionellen Sinne als auch in einem die qualitative Katholizität anzeigenden Sinne. Aus dem Kontext heraus aber dürfte zu schließen sein, dass das Adjektiv „catholica“ hier wohl mehr die Konfession „(römisch-)katholisch“ anzeigt, in die Christen aufgenommen werden, wenn sie aus einer nichtkatholischen Konfession zu dieser übertreten. Wohl aber schwingt das qualitative bzw. quantitative Verständnis von Katholizität immer schon mit und weitet in gewisser Weise den Blick auf die anderen Konfessionen, denn die Rede von der „subsistierenden“ Einheit in UR 4,4 suggeriert, dass in anderen christlichen Konfessionen auch die katholische Gemeinschaft im Sinne von Fülle und Weite (Katholizität) gegeben ist, aber in nicht voller (absoluter, „plenam“), sondern eben in unvollkommener Weise.300

      In UR 4,7 sprechen die Konzilsväter expressiv verbis von der Katholizität („catholicitatem“). Anders als in der Gegenreformation wird hier nicht ein rein quantitatives Verständnis der Katholizität im Sinne einer geographischen, universalen Ausbreitung der (römisch-)katholischen Kirche bemüht. Sondern die Konzilsväter stellen das altkirchlichliche, ursprünglich vor allem qualitative Verständnis der Katholizität der Kirche und die damit gegebene Frage nach einer rechten Verhältnisbestimmung von kirchlicher Einheit und Vielfalt in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass spätestens mit dem Ausbilden und Erstarken eines zunehmend absolutistisch verstandenen Petrusdienstes ein hierarchisches Einheitsdenken in der (römisch-)katholischen Kirche Raum gewann, das eine zur Katholizität notwendig immer mitzudenkende Vielfalt und legitime Verschiedenheit immer mehr eingrenzte:

      „Die der Kirche wesentliche Einheit wurde weithin mit Einförmigkeit, die Unitas mit Uniformitas gleichgesetzt. Das Ideal war die Durchsetzung der einen und gleichen römisch-lateinischen Liturgie und des einen und selben römischen kanonischen Rechtes in der ganzen katholischen Kirche und die möglichst weitgehende Beaufsichtigung und Leitung aller Gebiete des kirchlichen Lebens durch die römischen Zentralbehörden. […] Dass durch eine derartige uniformistische und zentralistische Praxis die echte qualitative Katholizität der Kirche beeinträchtigt wurde, wurde […][lange] nicht bewusst […]. Auf dem II. Vaticanum brach jedoch dieses Bewusstsein machtvoll durch. Die Reaktion gegen die bisherige Praxis geschah im Namen einer volleren Aktualisierung der Katholizität der Kirche, aus der Überzeugung, dass die praktische und nicht nur theoretische Anerkennung der aus der Schöpfung und aus der Gnadenfülle Christi stammenden Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit unter den Völkern, Menschengruppen und Einzelmenschen keine Beeinträchtigung der echten Einheit der Kirche, sondern die Realisierung der ihr geschenkten Fülle bedeutet. Die häufige Feier nichtrömischer Liturgien während des Konzils durch Bischöfe der unierten Ostkirchen und das Eintreten dieser Konzilsväter für die Eigenart ihrer Kirchen trugen zweifellos nicht wenig zur Weckung eines katholischeren Bewusstseins bei.“301

      Nicht nur für die Ökumene, bei der die Einheit der christlichen Kirchen nicht als Aufhebung aller berechtigten und historisch gewachsenen Eigenheiten der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen missverstanden und deren Vielfalt im Sinne einer Rückkehr-Ökumene von einer falsch gedeuteten Uniformität der (römisch-)katholischen Kirche aufgesogen werden darf, sondern auch für das innerkatholische Verhältnis von Universal- und Ortskirche spielt das qualitative Verständnis von Katholizität und die mit diesem einhergehende Spannung zwischen notwendiger Einheit und größtmöglicher Vielfalt eine nicht zu unterschätzende Rolle. UR 4,7 betont als bleibendes katholisches Prinzip die Notwendigkeit der Einheit („in necessariis unitatem“), die unbedingt zu wahren sei („custodientes“), betont zugleich aber – quasi als zweiten Brennpunkt ein und derselben Ellipse – die gebührende Freiheit („debitam libertatem“)302, die „alle in der Kirche gemäß der einem jeden gegebenen Aufgabe sowohl in den vielfältigen Formen des geistlichen Lebens und der Lebensweise als auch in der Verschiedenheit der liturgischen Riten, ja sogar in der theologischen Ausarbeitung der geoffenbarten Wahrheit […] wahren“ (UR 4,7) sollen. Die Konzilsväter erkennen – in dieser Deutlichkeit wohl den Vertretern der katholischen Ostkirchen geschuldet – in der Vielfalt des geistlichen Lebens, der liturgischen Riten und des theologischen Fragens keinen Gegensatz zur unaufgebbaren Einheit der Kirche, sondern vielmehr ein ihr komplementäres, „angemessenes Verständnis von Katholizität im Sinne eines qualitativen Reichtums innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche“303, welches zu einem tieferen Verständnis des eigentlichen „wahren“ Wesens von Kirche beitragen kann, das vor allem im Zuge der Gegenreformation verstellt worden war und mit der konziliaren Wiederbelebung ihres sakramentalen Verständnisses wieder erhellt wurde. Dass ein solches, weniger rein monistisches, sondern zugleich plurales Kirchenverständis Auswirkungen hat nicht nur auf innerkirchliche Strukturen, sondern auch auf den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog, drücken die Konzilsväter dadurch aus, dass – wie UR 4,7 betont – eine wieder qualitativ verstandene Katholizität zugleich deren Apostolizität voller kundtue („simul et apostolicitatem Ecclesiae […] manifestabunt“):

      „Wenn die Gläubigen so die Katholizität der Kirche ‚vollständiger manifestieren’, so wird eo ipso auch die Apostolizität der Kirche voller realisiert […]. Der Grundsatz des ‚Apostelkonzils’, ‚keine Lasten aufzulegen als das Notwendige’ (Apg 15,28), die Anerkennung der vielfältigen Charismen, die Bereitschaft des Apostels Paulus, den Juden ein Jude und den Gesetzesfreien ein Gesetzesfreier zu werden (1 Kor 9,20f), sind charakteristisch für die Haltung der apostolischen Kirche. Uniformität und Zentralismus sind gewiss nicht geeignet, die Identität der heutigen Kirche mit der apostolischen deutlich zu machen.“304

      Dass der Kirche hiermit – sowohl nach innen als auch nach außen – eine bleibende Aufgabe gesetzt ist, muss nicht eigens erwähnt werden. Wie schwierig allerdings das Ringen um ein angemessenes Verhältnis von notwendiger Einheit und größtmöglicher Vielfalt ist, zeigen nicht nur die innerkatholischen Spannungen um ein rechtes Verständnis der „Communio“-Ekklesiologie und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Universal- und Ortskirche, sondern auch der im Zuge von „Dominus Iesus“ und des Papieres der Glaubenskongregation zu Aspekten der Lehre der Kirche in letzter Zeit zunehmend ins Stocken geratene ökumenische Dialog zwischen den aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften und der (römisch-)katholischen Kirche. Die inner- wie zwischenkirchlichen Spannungen und divergierenden Auffassungen dürfen nicht zum Stillstand des Dialoges innerhalb der (römisch-)katholischen Kirche und zwischen den christlichen Kirchen führen, auch nicht zu einem Erstarken zentralistischer Tendenzen des Lehramtes. Vielmehr sollte das vom Zweiten Vatikanum wieder neu ins ekklesiale Bewusstsein gehobene qualitative Verständnis der Katholizität dazu dienen, in der ekklesialen Vielfalt die tiefere


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