Drachensonne. Thomas Strehl

Drachensonne - Thomas Strehl


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      Er war nur noch zwanzig Pferdelängen von der roten Stadt entfernt, befand sich in unmittelbarer Näher des flammenden Grabens, im Schatten der riesigen Burgmauer.

      Und noch immer schien niemand sein Auftauchen bemerkt zu haben.

      Wenn es so etwas wie Wachen gab, dann taten sie ihren Dienst nur sehr unzureichend oder sie hatten ihn längst bemerkt und nicht in die Kategorie »Bedrohung» eingestuft.

      Jonaas legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Mauerwerk. Jetzt, aus der Nähe, konnte er erkennen, dass die Mauer einige Risse hatte. Steine fehlten, der Wehrgang war beschädigt und auch der von ihm aus gesehene linke Turm machte einen verfallenen Eindruck.

      Alles in allem war das Bauwerk in einem bemitleidenswerten Zustand, und Jonaas fragte sich, warum niemand die Mauer reparierte.

      Fehlte dem Burgherren das Geld? Oder fehlten Arbeiter? Oder verließ man sich einfach auf den Feuergraben?

      Jonaas verwarf alle Ideen. Eigentlich gab es nur eine vernünftige Erklärung: Man sparte sich die Reparatur, weil man keine Burg, keine Wehrtürme mehr brauchte. Der große Krieg war lange vorbei, und seit endloser Zeit lebten die Völker Karma´neahs in Frieden.

      Nur wie lange noch? dachte Jonaas. Er erinnerte sich schlagartig, warum er hier war, und hoffte, das Kandelar seine Mauern und ihren Schutz nicht schon bald bitter nötig haben würde.

      Er ging mit pochendem Herzen weiter und setzte den ersten Fuß auf die Zugbrücke.

      Wenigstens machte das Holz (wenn das schwarze Material denn Holz war) einen festen und sicheren Eindruck.

      Der Junge machte weitere Schritte und blickte angstvoll in das Flammenmeer, das wenige Meter unter ihm im Burggraben tobte.

      Ab und zu schoss eine Flamme hoch und züngelte an der Wand entlang, nur um danach wieder zusammenzufallen und im heißen Meer zu verschwinden.

      Dann brach irgendwo anders eine Flamme aus und schoss in den Nachthimmel.

      Einmal geschah dies so dicht an der Brücke, das Jonaas die mörderische Hitze spürte und Angst bekam, dass seine Haare Feuer fingen. Er machte einen Schritt zur Seite und versuchte, die Brücke so mittig wie möglich zu überqueren, um nach beiden Seiten genug Abstand zum Feuergraben zu haben.

      Schließlich ließ er ohne einen weiteren Zwischenfall die Brücke hinter sich und sprang mit einem Satz auf den steinernen Boden im Tor der Burgmauer.

      Es polterte dumpf, als er aufkam, und wieder rechnete der Junge damit, dass nun eine Wache auf ihn einstürmte, doch nichts dergleichen geschah.

      Er warf einen Blick durch das Tor in das Innere der Stadt und bemerkte unmittelbar hinter der Mauer einige niedrige Gebäude.

      Langsam ging er näher.

      »Hallo«, sagte er. Überlaut klang seine Stimme in der Stille, und er zuckte zusammen. »Hallo?«

      Niemand rührte sich. Die Stadt schien ausgestorben, menschenleer.

      Als Jonaas jedoch weitere Schritte in die Stadt hinein setzte, bemerkte er, dass es hier sehr wohl Leben geben musste.

      Denn direkt neben dem Eingang zu einer der Hütten türmten sich Berge fauliger Essensreste und anderer Müll, und es roch nach Verwesung und Fäkalien.

      Vorsichtig ging der Junge weiter und trat in etwas Glitschiges, das er bei näherem Betrachten als Erbrochenes identifizierte.

      »Hallo.“ Noch einmal versuchte Jonaas sein Glück, ganz in der Nähe der Tür, und diesmal war sein Versuch von Erfolg gekrönt, denn als Antwort auf seinen Ruf vernahm man ein Rascheln, ein lautes Stöhnen und einen Fluch.

      »Verdammt noch mal«, hörte Jonaas eine raue Stimme. »Wer lässt mich da nicht in Ruhe schlafen?«

      Ein Poltern ertönte, dann ein weiterer Fluch, und endlich erschien ein großer, grobschlächtiger Mann in den Umrissen der Tür.

      Er war wohlbeleibt, trug die schäbigen Überreste einer einstmals rotblauen Uniform und mitten im Gesicht eine leuchtend rote Nase, die auf mächtigen Alkoholgenuss hindeutete. Außerdem ging von ihm ein Gestank aus, der unschwer erraten ließ, von wem das Erbrochene stammte.

      Er funkelte Jonaas aus kleinen, rotgeränderten Augen an und fuhr sich mit einer Hand über den runden Schädel mit dem Igelschnitt. In der anderen Hand trug er zwei abgewetzte Stiefel, die er in der »Eile» wohl nicht an bekommen hatte.

      Seine Hand rieb nun sein stoppeliges Kinn, und er stieß dabei einen langen Rülpser aus.

      »Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören«, polterte er. Er glotzte den Jungen aus glasigen Augen an. »Ich kenne dich nicht«, beschloss er dann. »Wer bist du?«

      »Mein Name ist Jonaas«, stellte sich der Junge vor. »Und Ihr könnt mich nicht kennen, denn ich betrete Kandelar heute zum ersten Mal.«

      Der Blick des Soldaten verfinsterte sich. »Noch ein Besucher«, murmelte er. »Erst kommt jahrelang kein Schwein, und nun fallen sie über uns her wie die Fliegen.«

      Er machte einen Schritt vorwärts und packte den Jungen rüde am Arm.

      »Du gehst mit mir, sobald ich meine Stiefel anhabe«, sagte der Soldat. »Und versuche nicht, mir zu entkommen.« Er deutete auf den Dolch an seiner Seite. »Ich bin ein geübter Kämpfer.«

      Jonaas sagte nichts, er dachte sich seinen Teil. Sicher wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, diesem Trunkenbold davon zu laufen, doch schließlich war er freiwillig nach Kandelar gekommen, und wenn ihn der Soldat nun weiterbrachte, konnte das für ihn, der sich in der Stadt nicht auskannte, nur von Vorteil sein.

      »Wohin bringt Ihr mich?« fragte Jonaas. »Zum Befehlshaber der Wache?«

      Der Dicke kämpfte torkelnd mit dem rechten Stiefel und spuckte auf den Boden. »Ich bin die ganze Torwache«, sagte er dann. »Du musst schon mit mir Vorlieb nehmen, Bürschchen.«

      Der Junge erschrak. »Aber … Aber«, stotterte er. »Es gibt doch weitere Soldaten?«

      Wieder spukte der Dicke eine schleimige Flüssigkeit aus. »Klar gibt es noch welche«, kicherte er. »Die sechs Idioten von der Palastwache.«

      »Nur sechs?« Jonaas war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte eine Armee erwartet, eine ausgebildete Kampftruppe, die es im Ernstfall mit der eisigen Horde aufnehmen konnte.

      Aber diese Hoffnung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

      Kandelar schien nicht mehr die Stadt zu sein, die sie einst war.

      Umso wichtiger wurde es, dass Jonaas den schwarzen Lord erreichte und ihm das Drachenfeuer abjagte, ehe er damit Schaden anrichten konnte.

      »Bringt mich zu eurem Anführer«, forderte der Junge. Die Zeit brannte ihm unter den Nägeln, und das Getue des Soldaten ging ihm auf die Nerven.

      »Was glaubst du, was ich vorhabe, Bursche?« fragte der Dicke.

      Und dann packte eine starke Hand Jonaas‘ Genick, und ehe der Junge sich versah, schleppte ihn der Soldat durch die Straßen der Stadt.

      »Bin gespannt, was König Fadh zu dir sagen wird«, murmelte er. Er grinste den Jungen an, und Jonaas roch fauligen Atem und sah schlechte Zähne. »Vielleicht lässt er dich hinrichten«, grinste er. »Das wäre doch mal wieder ein Spaß.«

      Jonaas erschauerte. Irgendwie entwickelte sich die Sache in der roten Stadt nicht so, wie er es erwartet hatte.

      Der harte Griff des Soldaten ließ dem Jungen nicht unbedingt viel freie Sicht, trotzdem konnte er auf ihrem Weg einige Eindrücke von Kandelar sammeln.

      Die Straßen waren schmutzig und löcherig, so oft geflickt, bis man es schließlich aufgegeben hatte.

      Die meisten Häuser waren baufällig, die Fensterscheiben blind vom Sand oder ganz zerstört. Nur hinter wenigen brannte Licht, überhaupt schienen nur zwei oder drei der Hütten, an denen sie vorbei kamen, bewohnt zu sein.

      Kandelar,


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