Drachensonne. Thomas Strehl

Drachensonne - Thomas Strehl


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und Lanoos, der hellen Göttin, umzusehen.

      Die Gegend war noch steiniger geworden. Die Gesteinsbrocken waren höher und breiter, manche hatten sich aneinandergereiht, sodass sie eine Wand bildeten, die es zu umreiten galt.

      Dann jedoch, als der Junge schon Angst bekam, dass sie sich in diesem Labyrinth für immer verirrten, hörten die Steine auf und gaben den Blick in ein Tal frei.

      Irgendwie schienen sie in den letzten Stunden bergan gelaufen zu sein, oder aber das, was sich vor ihnen auftat, war eine gewaltige Senke.

      Jedenfalls blickten sie in ein Tal von riesigen Ausmaßen.

      Ein fruchtbares, grünes Tal, in dem mächtige Bäume und gigantische Farne wuchsen, wie es sie in den Wäldern des Talangebirges nicht gab.

      Und doch war es nicht der Wald, der Jonaas erstaunen ließ, vielmehr war es die Stadt, die genau im Zentrum des Waldes und damit auch im Zentrum des Tales lag.

      Die Gebäude waren von einer hohen, beinahe quadratischen Mauer umgeben, an jeder Ecke befand sich ein runder Wachturm, und in die südliche Wand waren ein Tor und eine Zugbrücke eingelassen, die eventuellen Besuchern den Eintritt in die Festungsstadt ermöglichte.

      Und obwohl Jonaas noch nie in seinem Leben eine so große Stadt gesehen hatte (eigentlich war es überhaupt die erste, die er sah), war es nicht die dicke Mauer oder die Vielzahl der Gebäude, was seinen Atem stocken ließen.

      Vielmehr war es das, was die Stadt umgab.

      Denn die Zugbrücke spannte sich nicht über einen Wassergraben, wie Jonaas es aus Erzählungen der Reisenden kannte, sondern über einen Abgrund, der mit flüssigem Feuer gefüllt zu sein schien. Flammen züngelten an der Festungswand hoch und tauchten die Stadt in flackerndes, rotes Licht.

      Die rote Stadt, dachte Jonaas, und Gwayhier schien seine Gedanken zu erraten.

      »Ja«, flüsterte der Hirsch. »Dieses Feuer gibt der Stadt ihren Namen. Flammen, die aus der Erde selbst kommen und Kandelar beinahe uneinnehmbar machen.«

      Der Hirsch tänzelte. »Jedoch nur beinahe«, fügte er dann fast unhörbar hinzu. Der Blick Gwayhiers ging ins Leere, und Jonaas fragte sich, was im Kopf des mächtigen Tieres vor sich ging.

      Woran dachte der Hirsch? Wie lange reichte seine Erinnerung zurück? Wie alt war er?

      Seltsam, was in den letzten Tagen alles passiert ist, dachte der Junge. Und wie selbstverständlich er mit den neuen Begebenheiten umging.

      »Karma´neah hat sich verändert«, hatte Gwayhier gesagt, doch Jonaas konnte nur ahnen, was der Hirsch damit meinte. Schließlich hatte der Junge bis auf sein eigenes Dorf und den Wald drum herum nichts von der Welt gesehen.

      Und doch veränderte sich auch sein Leben von Minute zu Minute. Rasend schnell.

      So schien es ihm jedenfalls.

      »Ich kann dich nicht in die Stadt begleiten«, sagte der Hirsch und unterbrach Jonaas Gedankengänge. »Es würde viel zu viel Aufsehen erregen, und das wäre nicht in unserem Sinne.«

      Der Junge nickte, auch wenn ihm die Vorstellung nicht gefiel, das mächtige Tier zu verlassen und wieder ganz auf sich allein gestellt zu sein.

      Der Hirsch hatte ihm ein gewisses Maß an Sicherheit gegeben.

      Gwayhier hatte bei seinen letzten Worten mit dem Abstieg ins Tal begonnen, sprang geschickt von Busch zu Busch und erreichte in Rekordgeschwindigkeit den Boden der Senke. Dann ließ er Jonaas von seinem Rücken gleiten.

      »Geh jetzt«, sagte er. »Schon nach wenigen Schritten wirst du den Feuerschein durch die Bäume erkennen können, und die Röte wird dir den Weg weisen.«

      »Und dann?«

      »Wirst du Kandelar betreten. Noch befinden wir uns in friedlichen Zeiten, die Brücke ist herabgelassen, und niemand wird dir den Eintritt verwehren.«

      »Und dann?« fragte Jonaas erneut. Er war verunsichert, fühlte sich der Aufgabe nicht mehr gewachsen.

      Im Dorf war es für ihn sonnenklar gewesen, das er die Flamme zurückholen musste, doch nun, in der Fremde, wusste er nicht, wie er es eigentlich bewerkstelligen sollte. Er fühlte sich zu jung, zu unbedeutend, nicht erwachsen genug.

      Irgendwie hatte er gehofft, dass er sich Talkien und Swon anschließen konnte, dass er die Führung in die Hände des erfahrenen Jägers legen konnte.

      Doch das hatte nicht funktioniert, und nun stand er hier, ganz allein.

      »Der Schwarze ist nicht in Kandelar«, sagte Gwayhier. »Jedenfalls kann ich seine Anwesenheit nicht spüren.« Er sah sich um. »Leider heißt das auch, dass ich nicht weiß, wo er sich im Moment befindet.«

      Er trat näher auf den Jungen zu und stupste ihn mit seiner weichen Schnauze gegen die Brust.

      »Wir brauchen Verbündete«, sagte er. »Und in Kandelar werden wir sie finden, glaube mir.«

      Jonaas streichelte den Hirsch zwischen den Geweihansätzen. »Ich hoffe, du hast recht«, murmelte er. Er wandte sich um. »Dann werde ich mal gehen«, sagte er zögernd.

      »Sei vorsichtig, Kleiner«, sagte der Weiße. »Und traue erst einmal niemandem.«

      Der Junge winkte zum Abschied. »Wird schon schiefgehen«, flüsterte er, dann riss er sich los, ehe ihn auch das letzte bisschen Mut verließ, ließ den Hirsch zurück und lief in den Wald.

      »Wir sehen uns wieder, Jonaas«, rief Gwayhier ihm nach, und der Junge wünschte sich, er könnte dem Tier glauben.

      Doch mit jedem Schritt wurde die Angst vor dem Unbekannten größer als die Hoffnung auf eine glückliche Wiederkehr.

Kapitel 18

      Es war, wie Gwayhier es gesagt hatte.

      Erst tappte Jonaas fast blind durch die Dunkelheit des Waldes, denn selbst Lanoos‘ Licht erreichte den Boden durch die dichten Baumkronen nicht.

      Dann jedoch, als der Junge beinahe die Orientierung verlor, sah er einen rötlichen Lichtschein durch die Blätter und Stämme schimmern.

      Er korrigierte seine Richtung ein wenig und beschleunigte, angetrieben von der Erkenntnis, auf dem richtigen Weg zu sein, seine Schritte.

      Die Bäume rings um ihn waren hoch, mächtige Stämme trugen riesige Kronen, dazwischen wuchsen mannshohe Farne.

      Ansonsten gab es nichts. Keine abgestorbenen Zweige, keine kranken, umgestürzten Bäume, kein Unterholz. Der Waldboden sah aufgeräumt und ordentlich aus, als hätte ein Riese ihn ausgefegt.

      Und da die Sicht durch das Licht der Feuerwand immer besser wurde, kam Jonaas gut voran.

      Dann, früher als er damit gerechnet hatte, hörte der Wald auf.

      Und der Junge hatte plötzlich freien Blick auf die rote Stadt.

      Er war noch etwa zweihundert Pferdelängen entfernt, und nur noch felsiger Boden trennte ihn von der Mauer und der Zugbrücke.

      Es gab keine Bäume und Büsche mehr, keine Felsbrocken, die ihm Deckung verschaffen konnten, und er fühlte sich nackt und verletzlich, als er aus dem Schutz des Waldes heraustrat.

      Vorsichtig sah er sich um, als er sich im Licht Lanoos‘ der roten Stadt näherte.

      Beinahe rechnete er damit, von der Stadtmauer her angerufen zu werden, glaubte schon, in einem Pfeilhagel sein Leben aushauchen zu müssen, doch alles blieb ruhig.

      So, wie überhaupt eine seltsame Stille über der Stadt lag.

      Nicht einmal die Flammen, die aus dem Graben heraus die Stadtmauern umzingelten, knisterten.

      Keine Tiere waren zu sehen, kein Vogel sang.

      Das einzige Geräusch wurde von kleinen Steinchen verursacht, die Jonaas mit seinen Schritten in Bewegung brachte und die klickend und polternd über den Steinboden rutschten.

      Der


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