Cap Arcona 1927-1945. Stefan Ineichen
anderthalbtägige Probefahrt, an der Ende Oktober 1927 zahlreiche Presseleute teilnahmen, führte nicht in die weiten Fernen der sonnigen Tropen, sondern bei stürmischem Wetter bis auf die Höhe der westfriesischen Insel Terschelling vor der niederländischen Küste, wo die Cap Arcona wie geplant wendete, um nach Hamburg heimzukehren. Die Wellenberge, die auf der wilden Nordsee gegen den Dampfer krachten, verunmöglichten zeitweise den Aufenthalt auf dem Promenadendeck und schlugen bis aufs oberste Deck, das Sportdeck. Seekranke Passagiere beobachteten mit blassen und grünen Gesichtern, wie im Speisesaal Gläser von den schrägen Tischen klirrten und Weinflaschen über die Teppiche rollten.
Auf der Jungfernreise der Cap Arcona nach Rio de Janeiro und Buenos Aires dagegen, zu der der Schnelldampfer am 19. November 1927 in Hamburg ablegte, wurde die Phantasie des rauschenden Lebens unter tropischen Palmenwäldern Wirklichkeit. Als geladener Gast «plaudert» der Reporter Albert Köhler in seinen im Frühling 1928 in verschiedenen Zeitungen erschienenen Reisebriefen «in volkstümlicher, mit lustigem Humor gewürzter Form über die Erlebnisse auf seiner Südamerikareise», wie es im Vorwort seines bald darauf unter dem Titel Reporterfahrt ins neue Südamerika in Buchform vorgelegten Berichts heißt.
Dem französischen Boulogne-sur-Mer, dem ersten Hafen, den die Cap Arcona anläuft, geht für den ohnehin Frankreich gegenüber kritisch eingestellten Verfasser der Reporterfahrt noch jegliche Exotik ab. Doch schon im zweiten Hafen in der Bucht des nordwestspanischen «Städtchens» Vigo kommt südliche Lebendigkeit auf, wenn sich unzählige Ruderboote dem Riesendampfer nähern, «mit Körben voll von Südfrüchten. An langen Stangen reichen sie Waren herauf.» Der reisende Reporter fühlt im «Land, wo die Zitronen blühen» den Atem der alten Kultur und der «süßen Romantik» Spaniens. Auf der Weiterfahrt nach Lissabon wird die Cap Arcona von Tümmlern begleitet. Wie für die französische Hafenstadt mag sich Köhler auch für Lissabon nicht recht erwärmen, gilt Portugal doch als deutschfeindlich und als «Vasall Englands».
Lissabon ist die letzte Station vor der großen Überfahrt: «Um uns nichts als Wasser und Himmel. Nun rattern die Maschinen ohne eine Unterbrechung neun Tage und neun Nächte lang. Wenn das Schiff das nächste Mal stoppt, sind wir bereits in der Neuen Welt, in Brasilien.» Der Ozeanliner passiert Madeira, die Kanarischen und später die Kapverdischen Inseln, überquert schließlich den Äquator, fährt 350 Kilometer vor dem brasilianischen Festland an der Insel Fernando de Noronha vorbei und begegnet auf dem Weg zur südamerikanischen Küste der Cap Polonio, Kapitän Rolins früherem Schiff, das sich gerade auf der Rückfahrt nach Hamburg befindet.
Dann endlich: «In fieberhafter Spannung nähern wir uns Rio, dem schönsten Hafen der Erde. Hei, wie Auge und Geist vibrieren, bei sensiblen Menschen auch das Herz. Vor uns liegt ein Paradies, eine Natur in ihrer schönsten Schönheit. Denke dir zehnfach den Gardasee, hingeworfen unter sengende Tropensonne. An allen Ecken und Enden Inseln und Inselchen im romantischen Golf (etwa 80 sollen es sein), darauf die Seekadettenschule, Funkstation, Märchenvillen, Zaubergärten.» Die Umgebung der Millionenstadt «bildet ein großer Gebirgskessel von unzähligen Bergkämmen in drolligsten Formen, unter denen der Corcovado der besuchteste ist. Noch besuchter ist der weltbekannte Zuckerhut, eine der vielen Inseln im Golf, die in Zuckerhutform von einigen hundert Metern Höhe steil aus der blauen Flut zum Himmel ragt. Beide romantischen Aussichtspunkte sind für ein paar Groschen mit der Drahtseilbahn zu erreichen.» Der Hafen, der die Cap Arcona empfängt, ist «schwarz von Menschen in heller, meist eleganter Sommerkleidung (daheim jetzt Pelzmäntel). Zwischen dem vorherrschenden portugiesischen Fluidum entdecke ich viele blonde Greten, also deutsche Damen, aber auch sehr viele Neger und Mulatten. Eine brasilianische Militärkapelle, darunter viele Neger mit riesigen Trompeten, ist zu unseren Ehren am Landungsplatz postiert und gibt den ganzen Tag Freikonzerte.»
An Land bestaunt Köhler Prunkvillen «hinter üppiger Flora in buntester Blütenpracht», Hütten aus Wellblech und Sacktuch in der «Negerstadt», fährt durch Industriequartiere und arme Arbeiterviertel zum Botanischen Garten, wo Orchideen «in seltener Farbe und Fülle» zwischen Palmenalleen und Kakteen «in kubistischen Formen» wuchern, winzige Kolibris schwirren und spatzengroße Schmetterlinge die Luft «durchtänzeln». Weiter geht die Fahrt in den «feuchtschwülen» Urwald: «Wildhühner und grüne Papageien schwärmen durcheinander in wirrem Geschrei, Affen turnen in großen Sprüngen in fernere Wipfel hinauf.»
Cap Arcona vor Zuckerhut.
Nach einer Nachtfahrt südwärts erreicht die Cap Arcona Santos, die Hafenstadt vor São Paulo, den größten Umschlagplatz Südamerikas: «Etwa zehn bis zwölf Millionen Sack Kaffee zu je sechzig Kilogramm werden hier jährlich nach allen Ländern der Erde verladen, also weit über die Hälfte der ganzen Weltproduktion, die aus dem Hinterland São Paulo hier angeliefert wird.» Im Hinterland besucht der Reisejournalist nicht nur Kaffeeplantagen, sondern auch die Schlangengärten von Butantan, wo Impfstoffe gegen verschiedene Schlangengifte hergestellt werden.
Nach Santos erreicht die Cap Arcona in zweitägiger Fahrt die Hauptstadt Uruguays, «den frischesten und besuchtesten Badeort» des ganzen Kontinents. «Ein paar ‹gnädige Fräulein› aus Hamburg begrüßen die schöne Stadt, indem sie ein übers andere Mal den Tango singen: Montevideo, Montevideo – ist keine Gegend für meinen Leo – denn man weiß – dort ist’s heiß – und zu schwül – fürs Gefühl.»
Nach einem kurzen Halt in Montevideo überquert die Cap Arcona den Río de la Plata, den mehrere Kilometer breiten, schmutzig gelben Mündungstrichter der beiden Ströme Paraná und Uruguay. «Was der La Plata an Breite zu viel hat, das hat er an Tiefe zu wenig. Unsere Cap Arcona musste den ganzen Tag zum Verdruss ihrer Maschinen sehr langsam fahren. Der Fluss hat heute statt achtundzwanzig nur zweiundzwanzig Fuß Wassertiefe, und die Schiffsschrauben schleifen den Schlamm oft derart, dass selbst die trägen Pinguine, welche sämtliche Leuchtbojen hier im Fluss dicht bevölkern, erschreckt ‹abhauen›.» Wie vorgesehen legt die Cap Arcona fünfzehn Tage nach ihrer Abreise in Hamburg an der Kaimauer im Hafen von Buenos Aires an. «Hier drängen sich Zehntausende, deren Freudenschrei kein Ende nimmt. Spontane Jubelrufe ‹Viva Rolin!› brausen zu uns herauf.»
In Buenos Aires, der Hauptstadt des Landes, das nicht nur «der erste Getreidelieferant der Welt» ist, sondern als bedeutender Fleischexporteur auch sechzig Prozent der gesamten Fleischeinfuhr Englands bestreitet, besichtigt der deutsche Journalist das Schlachthaus: «Eine lange Zementbahn herauf stürmt das Vieh zum 2. oder 3. Stock, instinktmäßig Unheil ahnend. Einer nach dem andern, drängen sich die dummen Ochsen durch den schmalen Eingang, der innerhalb der Fabrik in zwei halbdunkle, enge Kästen ausläuft. Hier steht hoch auf der Zwischenwand der Massenmörder. Neugierig reckt der Ochs den Kopf und sucht einen Ausweg. Doch zielsicher saust der Hammer des Mörders nach beiden Seiten auf die hübsch präsentierten Schädel herab.»
Aussicht vom Corcovado auf die Bucht von Rio.
Albert Köhler lässt sich also nicht nur von Prunkvillen, Palmen und Papageien faszinieren, sondern beschäftigt sich ebenso mit der Wirtschaft der Länder, die an der La-Plata-Linie liegen. Als Nationalist – bürgerlicher und christlicher Prägung – interessiert er sich insbesondere auch für die deutschen Kolonien in Südamerika, plädiert trotz aller Schwierigkeiten, denen die Einwanderer ausgesetzt sind, für eine Stärkung der deutschen Gemeinschaft in Brasilien, um die «Gefahr der Inzucht auszugleichen und das brasilianische Deutschtum in seiner Echtheit zu erhalten», und trifft sich mit Landsleuten in Argentinien zum Bier, worauf umgehend Studentenlieder angestimmt werden: «Wie mögen die lieben Nachbarn gestaunt haben, als wir unsere schönen deutschen Kommerslieder gegen die blutrote Abendsonne schleuderten, dass Nachtigallen, Eukalyptus und Glühwürmchen lauschten!» Beim Besuch der deutschen Schule in Montevideo wird Köhler von hundert Kindern mit Deutschland, Deutschland über alles begrüßt.
Die Hamburger Reederei jedoch, ausgerichtet auf ein internationales Publikum, verzichtet auf ihrem neuen Flaggschiff auf nationalistisches Gehabe – im Gegensatz zur italienischen Konkurrenz, die sich mit der faschistischen Hymne Giovinezza unbeliebt machte. Einem Deutschchilenen,