"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25). Alban Rüttenauer
alt="image"/> - „da wurde er gesehen bei seiner Höhe und bei der Menge seiner Zweige.“ Gleich im Anschluß wird V. 12 ohne weitere Begründung das Gericht an diesem gut gediehenen Weinstock vollzogen. Da der Umschlag von Aufstieg und Fall so abrupt erfolgt, schwingt auch hier in der Bedeutung nachträglich so etwas wie das Sichtbar-Werden von Hochmut mit. Gesehen-Werden hat etwas mit Preisgabe, Sich-Aussetzen, Risikobereitschaft zu tun. Wie das aktive Sehen eine Entscheidung ermöglicht und herausfordert, so fordert das Sich-Zeigen, Sich-Sehen-Lassen das Schicksal heraus.
Unter den Vergleichsstellen im Ezechielbuch sind es folgende Stellen, an denen das Sehen das Wahrnehmen und Erkennen von etwas Schlechtem, Sündhaftem beschreibt. Die erste Stelle in 12,3 ist etwas zweifelhaft und daher nicht in die Tabelle mit aufgenommen worden. Der Prophet wird aufgefordert, das noch einem Teil der Verbliebenen bevorstehende Schicksal der Verbannung in einer Symbolhandlung vorzuführen.
Sehr merkwürdig ist die Stelle in 21,29. Als Begründung für das angedrohte Gericht heißt es dort:
„Daher, so spricht der Herr, JHWH, weil ihr denken laßt an eure Fehler, wenn eure Übertretungen offenbar werden, so daß die Sünden an all euren Taten gesehen werden, weil eurer gedacht wird, werdet ihr handgreiflich gefaßt werden.“
Es genügt offensichtlich nicht, nur vom Gesehenwerden der Handlungen zu sprechen, es muß noch eine besondere Qualität an diesen Handlungen unterschieden werden, die sie erst zu Sünden macht und für die es darum eine tiefergehende Wahrnehmung braucht. Das Gericht wird durch den König von Babylon vollstreckt, der eine Leberschau vornehmend vorgestellt wird, die ihm den nächsten Zielpunkt für sein Heer zeigen soll. Das judäische Königshaus schien sich darauf zu verlassen, daß ein heidnischer Herrscher wie der König von Babylon nur ein falsches Orakel bei einer solchen Leberschau erhalten könnte. Doch auch ein solches kann Gott dazu dienen, die Sünden des eigenen Volkes zu offenbaren und damit zu strafen.
An den Stellen 19,11 und 21,29 ist das Subjekt des Sehens anonym. Man darf zwar annehmen, daß es letztlich Gott ist, der sieht, daß aber zugleich an eine unbestimmte Öffentlichkeit gedacht ist, die er als Zeuge für die Notwendigkeit eines Gerichtes in Anspruch nimmt, wie solches bei Gerichtsworten in ausdrücklicher Form - etwa als Anrufung der Berge, des Himmels, oder anderer stummer Zeugen der Natur - nicht selten ist.
In 23,14 ist es ein bestimmtes Sehen, das Oholiba zur Versuchung wird:
Ez 20,28 ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie bei Ezechiel das Sehen oft einer in freier Entscheidung gewählten Handlung vorangeht:
Nach Hahn und Bergsma könnte auch eine bewußte Anlehnung an deuteronomischen Sprachgebrauch vorliegen, um so den Gegensatz zur Gesetzgebung des Dtn fühlbarer werden zu lassen. Mit den „unguten Gesetzen“ in V. 25 würde dann gerade auf diese Gesetzgebung angespielt, die sich aufgrund des laxeren Verhältnisses zum Kult vom Heiligkeitsgesetz unterscheidet. Der Gebrauch des Lokaladverbs „dort“ diene dazu, Beziehung und Gegensatz deutlich zu machen.108
Allen genannten Vorkommen ist gemeinsam, daß das „Sehen“ einer persönlichen Entscheidung vorausgeht, einer Entscheidung, die immer eine Entscheidung für oder gegen etwas oder Jemanden ist. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten ausgeschöpft. Es kann die Entscheidung Gottes sein, mit seinem Volk einen Bund zu schließen, es kann die Entscheidung zur Fällung oder Aussetzung eines Gerichtsurteils sein, es kann auf Seiten der Gläubigen die Entscheidung für oder gegen schlechte oder gute Beispiele sein. Gott selbst bleibt als der allsehende, immer zugleich der Unsichtbare, der nicht gesehen werden kann, von dem man sich kein Bild machen kann. Daran ändert auch die großartige Vision der Gottesherrlichkeit nichts, die dem Propheten geschenkt wird, aber nie Gott selbst unmittelbar sehen läßt. Die Beziehung zu ihm wird daher nie durch das rein natürliche Sehen als solches hergestellt oder erhalten, wohl aber durch ein kontrolliertes Sehen, das nicht allen Eindrücken nachgibt und Raum läßt für jene Wirklichkeit, die über das Sichtbare hinausgeht. Das ist allerdings ein Sehen, das an tiefere, verborgene Schichten dieser Wirklichkeit teilhaben läßt. Ein Sehen, das von der äußeren Tatsächlichkeit getroffener Entscheidungen „ab“-sieht und statt dessen „hin“-sieht auf jenen geistig sittlichen Bereich der Freiheit, in dem Entscheidungen erst getroffen werden müssen.
Weitet man den Blick über das Ezechielbuch hinaus, so bietet sich der weisheitliche Gebrauch der Wurzel bei Kohelet als Parallele an. Bei ihm ist sie die umfassende Wahrnehmungsart, mit der der Weise zu seinen Lebenserfahrungen kommt, um sie zu sammeln und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Am programmatischen Vers 1,14 läßt sich diese Tendenz ablesen:
Man könnte vier Stufen unterscheiden in dem durch das Sehen ermöglichten Wandlungsprozeß nach Ez:
1. Das Sehen, das ein bestimmtes Urteil unumgänglich macht.
2. Reflexion über Behinderung oder Erleichterung eines rechten Sehens.
3. Die Veränderung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung, die das Urteil herausfordert.
4. Die rechte Gotteserkenntnis als höchstes Ziel.
In 8,12 ist von einem Nicht-Sehen die Rede: Gott sieht nicht die Sprechenden. Der Grund ist seine fehlende Gegenwart im Land. Diese macht sein Sehen unmöglich. Er kann nach Meinung der Sprechenden nicht sehen. Dieses Sehen bzw. Nicht-Sehen-Können ist im Verständnis der Sprechenden ein äußerlicher Vorgang, der die unmittelbare Gegenwart voraussetzt. Als Antwort