"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25). Alban Rüttenauer


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er alles durchschaut, und im ez Sinne alles versteht. Das Nicht-Sehen in 12,6 drückt symbolisch die Blindheit des Fürsten und mittelbar auch des ganzen Volkes aus. Das Volk sieht nicht, weil es nicht versteht, und, wenn man Odell folgt, in gewisser Weise auch nicht gegenwärtig ist, indem es sich hinter Ersatzriten zurückzieht, um auch einer persönlichen Entscheidung auszuweichen, wie sie aus einem richtigen Sehen erfolgen müßte.

      Das Interessante hierbei ist, daß Sehen und Verstehen in eine besondere Beziehung zum Land gesetzt werden. Für die Sprecher der Redensart in 8,12 ist die Gegenwart Gottes im Land Bedingung und Voraussetzung für das Sehen und Wahrnehmen des religiösen Kultes. Durch die prophetische Antwort wird auch dieses Verhältnis umgekehrt: Das Sehen und Begreifen der eigenen Schuld, sowie die Einsicht in das einzig wahre Gottesverhältnis wird zur Voraussetzung für die Rückkehr ins Land und den wesentlichen - nicht bloß zufälligen - von Gott gewährten Besitz des Landes. Was erst Voraussetzung war - die Gegenwart im Land - wird selbst, auch für das Volk, infrage gestellt, und muß seinerseits erst Ziel und Gegenstand einer Neu-Vergewisserung werden, die durch neu erlerntes Sehen und Verstehen ermöglicht wird.

       1. f) Die Sinnkrise des Volkes

      Die Ältesten reihen sich mit ihrem bemerkenswerten Spruch in eine Folge unterschiedlicher Situationen und Vorgänge ein, an denen ganz unterschiedliche Menschen beteiligt sind. Nur die image - „die Ältesten des Hauses Israel“ erhalten eine Bezeichnung, die historisch einzuordnen ist. Ob aber wirklich mit ihnen an eine bestimmte historische Gruppe gedacht ist, bleibt trotzdem fraglich.

      Die einzige mit Namen genannte Person unter ihnen, Jaasanja, Sohn Schafans, ist nicht ermittelbar. Die weinenden Frauen, wie die 25 Männer mit dem Rücken zum Tempel, die auf die Ältesten folgen, bleiben jeweils anonym. Das Götzenbild am nördlichen Eingang, das vorher erwähnt wird, steht für sich allein ohne anwesende Personen.109 Historisch verifizierbare Angaben sind also in der Komposition so gut wie nicht enthalten,110 oder wenigstens schwer nachweisbar.

      Es konnte ein mit der Ältesten-Gruppe verbundener Bezug zur Sinai-Offenbarung und zum Ruf des Mose nach einem prophetischen Volk wahrscheinlich gemacht werden. Das Exil wird damit indirekt mit der Wüstenwanderung verglichen. Das Verhalten der Ältesten führt exemplarisch vor Augen, wie weit das Volk noch von dem Ideal eines solchen prophetischen Volkes entfernt ist und damit von der Möglichkeit eines zweiten Exodus. Auf der anderen Seite soll eben gerade diese Möglichkeit allmählich vorbereitet werden.

      Mit Hilfe von Bildern und Szenen in einer dichterisch kunstvoll ausgearbeiteten Komposition bringt der Prophet zur Anschauung, wieviel Widersprüchlichkeiten und Unwahrhaftigkeiten in der Anhänglichkeit an den Tempel zusammenkommen können. Diese durch den Tempel vermittelte Gottesbeziehung also, die zwar geschichtliche Vorgänge begleitet, aber nicht unmittelbar an ihnen ablesbar ist, ist dasjenige Element, worin die Sprechersituation am ehesten zu suchen ist. Der Tempel ist auch der „Ort“, an dem das Gericht beginnt, um von dort weiter auszustrahlen (9,6). Der Wechsel von Haus Israel (8,11 u. 8,12) zu Haus Juda (8,17), sowie ihre gemeinsame Nennung in 9,9 läßt sich am ehesten als das literarische Stilmittel erklären, durch komplementäre Ergänzung die Gesamtheit des Volkes hervorzuheben. Im 11. Kapitel wird die Erzählung zumindest dem Anschein nach historischer.

      Das einzige Gewisse, was gesagt werden kann, ist, daß Ezechiel exemplarische Verhaltensweisen des Volkes durch die Vision in räumlicher Nähe zum Tempel geschehen läßt. Bei einer so vorsichtigen Formulierung bleiben verschiedene Möglichkeiten gewahrt. Das exemplarische Verhalten läßt sich sowohl als einheitlicher Ritus, als auch als Abfolge einzelner völlig selbständiger Handlungen verstehen. Neben der häufig genannten Möglichkeit, daß Ez in Jerusalem geschehene Dinge durch die Vision mit dem Exil verbindet, ist auch grundsätzlich mit der weniger oft genannten Möglichkeit zu rechnen, daß er Exilserfahrungen (Tammuz-Verehrung!, sonst nirgendwo im AT erwähnt) nach Jerusalem projiziert.

      Das Geschehen am Tempel mit seiner Zusammenschau von Handlungen, die an verschiedenen Orten des Tempels stattfinden und das möglicherweise gleichzeitig, trägt auch in sich den Charakter einer Vision. Die mit der Versetzung nach Jerusalem begonnenen Raumwechsel pflanzen sich weiter fort. Man weiß nicht, wie man sich das ganze Geschehen ohne diesen visionären Rahmen vorstellen sollte. Denn dieser hält nicht nur Jerusalem und Exil zusammen, sondern verbindet auch innerhalb Jerusalems die einzelnen Abschnitte. Keels Feststellung, daß bei Ez die räumliche Komponente die zeitliche überwiege111, wird vielleicht nirgendwo sonst so deutlich wie in der Visionseinheit 8-11. Der Charakter der ganzen Vision ist so gehalten, daß zugunsten einer konsequenten räumlichen Bewegung die zeitlichen Gesetze zumindest stellenweise außerkraft gesetzt oder relativiert werden.

      Die Redensart in 8,12 ist dabei so allgemein formuliert, bedient sich einer so einfachen und klaren Sprache, drückt eine mögliche Empfindung der Zeit so direkt aus, daß zu vermuten steht, daß sich nicht nur die Ältesten, sondern überhaupt weite Teile der Bevölkerung darin wiederfinden konnten. In ihrem Inhalt läßt diese Redensart keinen Gegensatz zwischen Jerusalemern und Exulanten erkennen. Sie wird zwar nur in Jerusalem ausgesprochen, doch die Sprecherbezeichnung „Älteste“ schlägt die Brücke auch zu den Exulanten, unter denen sich auch Älteste befinden, wie 8,1 erkennen läßt. Während die Redensart 8,12 liturgisch verankert ist, wird die Variante 9,9, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, in einen sozialkritischen Zusammenhang gerückt. Diese räumliche, personelle und inhaltliche Variabilität der Redensart befähigt sie, die Thematik auszusprechen und einzuführen, die das Volk bewegt. Hier geht es nicht mehr bloß um Gerichtsankündigung, hier kommen Menschen zu Wort, die bereits Gericht an sich erfahren haben und nun nach dessen Sinn und der weiteren Zukunft fragen. Es sind nicht bloße Einzelstimmen, die sich hier melden, es ist letztlich das Volk selbst, das nach der äußeren Katastrophe auch in eine innere Sinnkrise gerät, durch die nichts weniger als die eigene Identität auf dem Spiel steht. Die Frage, deren Beantwortung durch diese Redensart wie alle weiteren notwendig gemacht wird, ist die, wie das Volk nach seinen Niederlagen und Verlusten einerseits noch als Volk überleben und andererseits die Beziehung zu JHWH wiederfinden kann, von dem es sich verlassen glaubt.

      Die Redensart benennt die drei Hauptagenten, die in den Wirren die tragenden Konstanten bleiben: JHWH, Land, wir (=Volk). Die innere Entfremdung von Gott infolge der politischen Niederlage hat nun auch in religiöser Beziehung eine gewaltige Lücke hinterlassen, die durch irgendetwas ausgefüllt werden mußte. Der Prophet hat es nicht mit religiös gleichgültigen, verweltlichten Menschen zu tun, sondern im Gegenteil mit Menschen mit einem allgemeinen religiösen Bedürfnis, das sich einen anbetungswürdigen Gegenstand sucht. Von diesem Gegenstand erhoffen sie eine Verbesserung ihrer Situation, nachdem sie sich in der Hoffnung, die sie auf JHWH gesetzt haben, enttäuscht sehen.

      Für das Empfinden des Volkes, so verdeutlicht die Redensart, bedeutet die politische Niederlage, daß Gott das Land verlassen haben muß. Auch der Prophet berichtet innerhalb der Vision, wie die Herrlichkeit Gottes den Tempel verläßt, allerdings aus freiem Entschluß und nicht aufgrund einer Niederlage, sondern abgestoßen von dem götzendienerischen, ungerechten und verantwortungslosen Treiben in Tempelnähe. Dies mindert aber gerade nicht seine Gegenwärtigkeit (u.a. auch im Gericht), sondern läßt sie außerdem Formen annehmen, durch die auch die Verbannten an ihr teilhaben können.

      Der Inhalt der Redensart ist so gehalten, daß er einen spannungsvollen Gegensatz zum übrigen Visionsgeschehen aufbaut. Der Spruch läuft auf das Land als Zielwort zu. Darin zeigt sich, welchen Vorrang für das Volk das Politische hat. Der Tempel wird im Spruch nicht erwähnt. Nichts an ihm deutet darauf hin, daß er in Tempelnähe seinen ursprünglichen Ort hat. Die Vision dagegen versetzt den Propheten unmittelbar an den Tempel und läßt vom Land ihrerseits so gut wie nichts sehen. Für den Propheten hat ebenso sicher das Religiöse um seiner selbst willen den Vorrang, und nicht als Mittel zur Erreichung eigener Interessen. Die Redensart spricht von Gott als von einem Gott, der nicht sieht, weil seine Gegenwärtigkeit in den Nöten der Zeit vermißt wird. Gleichzeitig werden die Sprecher vorgeführt wie Menschen, die gar nicht gesehen werden wollen und das Dunkel heimlicher Gemächer aufsuchen. Dem allen gegenüber erscheint


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