Ferien, die bleiben. Micky Molken
nur aufpassen, dass meine Eltern es nicht erfuhren. Sie würden einen Freund nicht dulden. Scheiße, sie waren so konservativ. Wenn sie wüssten, dass wir genau drei Tage vor unserer Abreise das erste Mal geknutscht haben, würden sie ausflippen. Und, wenn die anderen Mädels meiner Schule mitbekommen, dass ich und Ronny zusammen waren, würden die Schnepfen vor Neid platzen. Alle wollten mit ihm gehen und ich hatte das große Los gezogen.
Aber der erste Kuss war so ... scheiße! Voll ekelhaft! Ronny schob mir mit seiner Zunge irgendwelche Krümel in den Rachen. Nüsse oder so ein Zeug. Dabei hatte ich eine Nussallergie und mir schwollen sofort die Lippen an. Ich bekam Atemnot und fing an zu sabbern. Na ja, das konnte Ronny nicht wissen. Ansonsten war es schon aufregend, zumal es mein erster Freund war und ich wusste, dass er es sein wird, an den ich meine Unschuld verlieren wollte. Noch in diesen Sommerferien sollte es passieren. Ich war fest entschlossen, denn er sollte derjenige welcher sein.
Unsere erste Begegnung war nicht allzu lange her. Ich hatte ihn schon des Öfteren auf dem Schulhof gesehen, aber er mich nicht. Und miteinander geredet hatten wir vorher auch nicht. Doch vor zehn Tagen war alles anders. Es war der Nachmittag unseres letzten Schultages und der Beginn unserer Ferien. Ronny war mit ein paar Jungs am See gewesen, als ich mit meinen Freundinnen dazu kam. Sie hatten dort einen liegenden Schwimmbagger gekapert. Seit mehreren Monaten war der Bagger nicht mehr in Betrieb. Wahrscheinlich war er defekt und der Schaden zu groß, um schnell repariert zu werden. Nun diente er als Sprungturm. Es war das perfekte Badewetter und alle tummelten sich im Wasser. Nur ich nicht. Ich lag auf der angrenzenden Wiese und sonnte mich. Ich machte es mir auf meinem Handtuch bequem. Zuvor hatte ich mich selbstverständlich mit Sonnenschutz eingerieben. Und das Ganze sorgfältig, darauf legte Mom sehr viel wert. Gelangweilt beobachtete ich die Schäfchenwolken. Wie sie wohl entstehen, fragte ich mich. In manchen Wolkenformationen konnte ich Figuren erkennen. Nur einmal auf solch einer Wolke schweben, das wäre cool, war mein letzter Gedanke, als ich unerwartet aus meiner Verträumtheit gerissen wurde. Anfänglich dachte ich, dass eine größere Wolke den Himmel zu verdunkeln schien und einen Schatten auf mein Gesicht warf. Ich erkannte aber schnell den Irrtum. Eine selbst in Schatten gehüllte Silhouette stand plötzlich vor mir. Es war Ronny, der mir die Sonne nahm. Er fragte mich, ob alles gut sei und ich nicht Lust hätte, mit ins Wasser zu kommen. Dass es mir meine Eltern verboten hatten, im Baggersee zu baden, wollte ich ihm nicht sagen. Es war mir zu peinlich.
Meine Eltern hielten es für zu gefährlich. Sie hatten Angst, dass ich ertrinken könnte. Es war schon einige Jahre her, als zwei Personen im See ums Leben gekommen waren. Und es waren keinesfalls alte Leute oder Babys. Nein, im Gegenteil. Es waren alles gute Schwimmer. Vermutlich gab es am Grund des Sees irgendwelche Strudel oder Hohlräume, die eine plötzliche Erdsenkung herbeiführten und somit einen Sog erzeugten, der sehr gefährlich war. Ich durfte nur dort baden, wo auch Rettungsschwimmer die Badegäste beaufsichtigten. Also erfand ich eine unglaubwürdige Notlüge, die Ronny mir abkaufte.
»Aber wenn du Lust hast, lade mich doch zum Eisessen ein«, sagte ich frech.
Kaum ausgesprochen blieb mir die Luft weg. Verdammt, was war los mit dir, Denise? Ermahnte ich mich selbst. Hatte ich das tatsächlich gesagt. Oh, wie peinlich. Du hast ihn gerade angebaggert. Mein Mundwerk war wieder einmal schneller als mein Verstand. Das passierte mir in letzter Zeit öfter. Was gar nicht meine Art war. Noch vor einem Jahr wäre mir das nie passiert. Ich wäre schon im Erdboden versunken, wenn er mich nur angelächelt hätte. Da musste ich jetzt durch und einen Korb kassieren. Aber nein, stattdessen stotterte Ronny umher und war alles andere als selbstbewusst. Dass ihn ein Mädchen anmacht, damit hatte er nicht gerechnet. Und ich am allerwenigsten. Dann aber, kam ein Kurzes und Knackiges:
»Okay.«
Hatte ich mich gerade verhört oder sagte er »Okay«? Das konnte nicht sein. Der, Ronny Schönfeld, lud mich zum Eisessen ein? Nein, nicht er. Warum sollte er? Oder hatte er »Oh je« gesagt? Ich war mir unsicher. Was machte ich jetzt? Ich dachte nach. Ich konnte ihn schlecht darum bitten, sich zu wiederholen. Ich war in einer Zwickmühle. Jetzt aufzustehen wäre blöd. Also blieb ich liegen und sagte nichts.
»Jungs, ich bin kurz weg«, rief er den anderen zu.
Wahrscheinlich war ich ziemlich rot angelaufen, als ich die erhoffte Bestätigung bekam. Ups! Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ein wenig nervös war.
»Na, dann, lass uns gehen«, gab er den Startschuss.
Ronny half mir hoch und wir machten uns auf den Weg. Ganz in der Nähe gab es das beste Softeis der Gegend. Zwei Wege führten geradewegs zur ersehnten Abkühlung. Zum einen der geteerte Radweg oder der Weg über die Wiese. Die Strecke des Radweges wäre ein wenig weiter und so entschieden wir uns für die nahe gelegene Weide. Aber so wie der heiße Asphalt des Radweges, hatte auch der Feldweg über die Koppel seine Tücken. Barfüßig trapsten wir über das hohe Grass. Die Sonne biss uns gnadenlos in den Nacken. Ständig den Blick nach unten gerichtet, mussten wir aufpassen, um nicht in einen Kuhfladen hineinzutreten. Die weidenden Kühe ließen wir nicht aus den Augen. Ein wenig Respekt hatte ich schon vor den Viechern, die auf der Weide grasten. Ronny versuchte, mir die Angst mit den Worten zu nehmen: »Nur gut, dass wir keine rote Kleidung tragen, ansonsten würden sie uns sicher angreifen, denn sie hassen die Farbe Rot. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir.«
Mein Lächeln war nicht ehrlich. Aber mehr wollte ich mich dazu nicht äußern. Denn ich wusste im Gegensatz zu Ronny, dass die Kühe Farben gänzlich uninteressant finden. Rinder sind grundsätzlich keine aggressiven Tiere. Im Gegenteil, meistens sind sie ruhig, gemütlich und phlegmatisch. Sie greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlten. Sie reagierten meistens nur auf schnelle Bewegungen und nicht auf rote Kleidung. Aber ich wollte nicht neunmalklug herüberkommen und ließ Ronny in seinem Glauben. Es war süß, dass er mich beschützen wollte. Mein persönlicher Held. Leider war mein Held schneller verschwunden, als ich es erahnen konnte. Die Kühe hatten uns bemerkt und schauten zu uns herüber. Sie schienen neugierig zu sein und beobachteten uns. Alles schien friedlich, bis sich plötzlich die Herde in Bewegung setzte. Sie kamen auf uns zu. Anfänglich nur langsam doch zu allem Übel legten sie an Geschwindigkeit zu. Es trennten uns vielleicht fünfzig Meter von Ihnen, als Ronny versuchte sie einzuschüchtern. Er machte sich groß. Ronny streckte beide Arme weit vom Körper ab und schrie ihnen entgegen. Es ähnelte an einer Sportübung: Der gute alte Hampelmann. Leider gefiel es der Herde überhaupt nicht. Rasend kamen sie unaufhörlich näher. Dann hörte ich nur ein Wort mit einer einzigen Silbe und das war »Lauf!«. Völlig überraschend ließ mich Ronny allein. So schnell er konnte, lief er um sein Leben, in Richtung Weidezaun. Fünf der Kühe nahmen direkte Verfolgung auf und rannten ihm hinterher. Nur eine einzelne Kuh interessierte sich für mich. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und fast wäre es mir in die Hose gerutscht. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und streckte ebenfalls beide Arme seitlich vom Körper aus. Im Gegensatz zu Ronny vermied ich hektische Bewegungen und brüllte das Vieh an. Etwas Besseres wie »Stopp!«, fiel mir in diesem Schreckensmoment leider nicht ein. Als ob Kühe auf das Wort Stopp hören würden. Zum Erstaunen reagierte sie tatsächlich auf meinen Befehl und verlangsamte die Geschwindigkeit.
»Ruhig, ganz ruhig!« Meine Stimme zitterte.
Die Kuh blieb stehen und fing an zu grasen. Ich atmete tief. Erst jetzt hatte ich die Zeit nach Ronny zu sehen und ließ mein Blick von der Kuh für einen Moment ab. Er war bereits in Sicherheit und wartete hinter dem Weidezaun. Auch seine Verfolger ließen von ihm ab und gaben den Weg für mich frei. Langsam bewegte ich mich in seine Richtung. Geschafft, ich war in Sicherheit.
»Warum bist du nicht gelaufen? Verdammt! Hast du die riesigen Hörner gesehen?«
Ronny war immer noch völlig außer Atem. Auch ich war komplett aufgewühlt. Stark gestikulierend erklärte er mir, dass er nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Es kam ihm vor, als wäre er bei einem Stierrennen im spanischen Pamplona. Ständig war er kurz davor, sich im vollen Lauf auf die Fresse zu packen und von der wütenden Herde auf die Hörner genommen zu werden. Und wenn er nicht so schnell gehandelt hätte, dass er nämlich die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hätte die Herde uns beide überrannt. Da war sich Ronny sicher. Ich für meinen Teil glaubte, dass sie nur neugierig gewesen