Handbuch des Strafrechts. Dennis Bock
Angriff muss zu einem Zeitpunkt verübt werden, an dem das Opfer (schon oder noch) Kraftfahrzeugführer oder Mitfahrer ist.[509] Bei dieser zeitlichen Verknüpfung handelt es sich um eine Ausprägung des allgemeinen Koinzidenzprinzips gemäß § 8 S. 1 StGB.[510] Vor Beginn der Führereigenschaft verübte Angriffe unterfallen zunächst nicht dem § 316a StGB.[511] Nicht erforderlich ist aber, dass das Opfer schon bei Beginn des Angriffs Führer des Kraftfahrzeugs oder Mitfahrer ist.[512] Wird das Opfer zum Fahrtantritt gezwungen, kann ein fortdauernder Angriff[513] oder ein wiederholter Angriff[514] vorliegen. Dann werden aber besondere Anforderungen an das Ausnutzen gestellt (Rn. 132).
aa) Allgemein
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Bei dem Merkmal „Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“ handelt es sich um einen „Schlüsselbegriff“ des § 316a StGB.[515] Danach ist erforderlich, dass der tatbestandsmäßige Angriff gegen das Tatopfer als Kraftfahrzeugführer oder Mitfahrer unter Ausnutzung der spezifischen Bedingungen des Straßenverkehrs begangen wird.[516] An dem Regelungsgehalt dieses Tatbestandsmerkmals hat sich durch die Neufassung durch das 6. StrRG (Rn. 20) sachlich nichts geändert.[517] Zweck dieses „janusköpfigen“ Tatbestandsmerkmales ist es, als „Scharnier“[518] das Angriffsgeschehen („dabei“) und Verkehrsgeschehen[519] bzw. die raub- und straßenverkehrsspezifischen Teile des § 316a StGB[520] miteinander zu verknüpfen.[521] Damit werden das Kollektivrechtsgut „Sicherheit des Straßenverkehrs“ (Kontrollverlust, Eskalationsgefahr) und die Individualrechtsgüter (gesteigerte Angriffsintensität und ungünstigere Abwehrposition des Opfers aufgrund der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs) miteinander in einen inneren Zusammenhang gebracht, durch die erst der besondere Unrechtsgehalt des § 316a StGB begründet wird.[522] Dies vor Augen ist das Merkmal Ansatzpunkt einer teleologischen restriktiven Auslegung des § 316a StGB. Dies gilt umso mehr, wenn, wie hier, das (vorgelagerte[523]) Tatbestandsmerkmal des „Führers“ eines Kraftfahrzeugs, entgegen der Rspr. und einem Teil der Lehre, eher weit verstanden wird (Rn. 114 ff.). Das Merkmal vereint zwei Erfordernisse, die analytisch voneinander zu trennen sind:[524] Das erste ist das der „besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“, das die Tatsituation beschreibt und nach h.M. opferbezogen auszulegen ist.[525] Das zweite ist das „Ausnutzen“, das täterbezogen zu interpretieren ist.[526]
bb) Straßenverkehr
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Mit Straßenverkehr ist der öffentliche Straßenverkehr gemeint.[527] Der private Grund ist damit ausgenommen.
cc) Besondere Verhältnisse des Straßenverkehrs
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Mit besonderen Verhältnissen des Straßenverkehrs sind verkehrsimmanente Gefahrenlagen gemeint, die für jeden Teilnehmer am Kraftfahrzeugverkehr typischerweise entstehen.[528] Diese opferbezogene Sichtweise liegt der Rspr. und wohl h.L.[529] zugrunde.[530] Der Führer muss also (in objektiver Hinsicht) im Zeitpunkt des Angriffs noch in einer Weise mit der Beherrschung seines Kraftfahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt sein, dass er gerade deshalb leichter zum Angriffsobjekt eines Überfalls werden kann.[531] Dies ergibt sich insbesondere aus der verkehrsbedingten Beanspruchung beim Führen eines Kraftfahrzeugs und die daraus resultierende Erschwerung der Gegenwehr.[532] Damit sind unstreitig Gefahren erfasst, die sich im fließenden Straßenverkehr ergeben können.[533] Hier liegt i.d.R. eine eingeschränkte Abwehrmöglichkeit beim Führer vor, weil er sich durch das Lenken des Fahrzeugs wegen der damit verbundenen Konzentration auf die Verkehrslage und die Fahrzeugbedienung auf den Verkehr konzentrieren muss.[534] Er gerät in ein Dilemma: Er kann sich des Angriffes erwehren und so den Verkehr gefährden oder den Angriff erdulden.[535] Einer besonderen Begründung durch den Tatrichter bedarf es deshalb in dieser Konstellation nicht.[536] Bei Mitfahrern (die i.d.R. nicht mit Verkehrsvorgängen beschäftigt sind) ist maßgeblich, ob diese aufgrund der spezifischen Verhältnisse des Straßenverkehrs in ihren Reaktionsmöglichkeiten (Flucht bzw. Gegenwehr) eingeschränkt sind.[537] So können die Abwehrmöglichkeiten insbesondere eingeschränkt sein, weil der Mitfahrer ein fahrendes Fahrzeug nicht ohne weiteres verlassen kann.[538]
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Auch bei einem verkehrsbedingten Halt (z.B. an einer roten Ampel) kann die Abwehrmöglichkeit des Tatopfers aufgrund der fortbestehenden oder bevorstehenden verkehrsspezifischen Beanspruchung bzw. der eingeschränkten Möglichkeit zur Gegenwehr noch eingeschränkt sein. Hier können nun Gesichtspunkte aufgegriffen werden, die die neuere Rspr. seit BGHSt 49, 8 teilweise bereits bei der restriktiven Interpretation des (vorgelagerten) Merkmals des Kraftfahrzeugführers berücksichtigt (Rn. 117): Da sich der Fahrer trotz des vorübergehenden Halts noch im fließenden Verkehr befindet und mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen befasst ist, liegen danach regelmäßig die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs vor.[539]
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Doch auch bei einem nicht verkehrsbedingten Halt kann die Gegenwehr des angegriffenen Kraftfahrzeugführers erschwert sein.[540] Ein Beispiel wäre, dass der Fahrer bei Dauerbetrieb des Automatikantriebs den Fuß dauernd auf der Bremse hat.[541] In diesem Fall muss nach dem BGH der Motor des Kraftfahrzeugs noch laufen sowie weitere verkehrsspezifische Umstände vorliegen, die zu einer Beeinträchtigung der Abwehrmöglichkeiten des Tatopfers geführt haben.[542] Diese Voraussetzungen liegen etwa vor, wenn der Fahrer das Automatikgetriebe auf Dauerbetrieb belässt und mit dem Fuß auf der Bremse bleibt, um das Weiterrollen des Fahrzeugs zu verhindern.[543] Eine Erschwerung der Gegenwehr infolge der spezifischen Bedingungen des Straßenverkehrs ist z.B. dann nicht gegeben, wenn sich die Aufmerksamkeit nicht auf das Führen des Fahrzeugs, sondern auf andere Tätigkeiten (z.B. Kassieren des Fahrpreises durch den Taxifahrer,[544] Telefonieren) richtet.[545]
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Bei einem Angriff auf Mitfahrer ist ebenfalls zwischen dem fließenden Verkehr und der Haltephase zu differenzieren. Während im fließenden Verkehr wegen der Erschwerung von Gegenwehr und Flucht i.d.R. ein Ausnutzen gegeben ist, soll dies in den Haltephasen nur im Ausnahmefall vorliegen. Ein solcher Ausnahmefall kann dann bejaht werden, wenn der Mitfahrer verkehrsbedingt nicht fliehen kann, ohne sich spezifischen Gefahren des fließenden Straßenverkehrs auszusetzen;[546] etwa bei dem Halt auf einem Seitenstreifen bei starkem Verkehr.
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Kein Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs liegt vor, wenn die Abwehrmöglichkeiten des Führers oder Mitfahrers nur durch die „Enge des Fahrzeuges“ und nicht auch aufgrund einer verkehrsbedingten Beanspruchung oder aufgrund sonstiger verkehrsspezifischer Umstände eingeschränkt sind.[547] Entgegen der früheren Rspr.[548] reicht für ein Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs die Tatsache allein nicht aus, dass das Opfer mit Gewalt bzw. Drohung oder einer List (die als solche nicht das Verüben eines Angriffs darstellt; Rn. 111 ff.) an einen abgelegenen Ort lockt und angreift, sodass fremde Hilfe nicht erreichbar ist (sog. Vereinzelungsfälle).[549] Die Vereinzelung wird mit Hilfe des Kraftfahrzeugs als Transportmittel nur ermöglicht, stellt aber kein Spezifikum der Teilnahme am Straßenverkehr dar.[550] Erforderlich ist zudem, dass das Fahrzeug als Verkehrsmittel dient, nicht als Fluchtmittel[551] oder Gegenstand des Raubes[552] selbst.
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Fraglich