Unternehmenssanierung, eBook. Guido Koch
aus einem konkreten Jahresabschluss gebildete Kennzahl wird erst aussagefähig, wenn sie mit der gleichen Art der Kennzahl zeitlich, zwischenbetrieblich oder im Soll-Ist-Vergleich verglichen wird. Die ausgewählten Kennzahlen sind also mit einer geeigneten Größe zu vergleichen. Als Vergleichsgrößen für eine Kennzahl kommen in Betracht:
1. | Dieselbe Kennzahl in einer anderen Periode: Beim sog. Zeitvergleich wird die Kennzahl mit dem Istwert einer früheren Periode verglichen. |
2. | Dieselbe Kennzahl eines anderen Unternehmens: Beim sog. Betriebsvergleich wird die Kennzahl mit dem Istwert eines Unternehmens der gleichen Branche oder dem Istwert des Branchendurchschnitts verglichen. |
3. | Die Ziel-/Soll-Vorgabe für diese Kennzahl: Beim sog. Soll-Ist-Vergleich dient ein zuvor ermittelter normativer Sollwert als Vergleichsgröße der Kennzahl.[110] |
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Die mit den Kennzahlen gewonnenen jeweiligen Teilurteile über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage müssen nun unter Berücksichtigung von qualitativen Informationen z.B. aus dem Lagebericht (vgl. Schritt 1) zu einem Gesamturteil über die wirtschaftliche Lage des analysierten Unternehmens zusammengefasst werden. Die Kennzahlen sind hierzu nach dem subjektiven fachmännischen Urteil des Bilanzanalytikers oder nach den in der Literatur zu findenden Vorgaben zu dem gewählten Kennzahlensystem[111] zu gewichten und zum Gesamturteil zu aggregieren.[112]
5.2.2 Probleme und Grenzen von klassischen Verfahren der Jahresabschlussanalyse
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Probleme der klassischen Jahresabschlussanalyse ergeben sich also aus der Notwendigkeit, Kennzahlen mehr oder weniger subjektiv auszuwählen, zu gewichten und zusammenzufassen: Bei der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse ist die Auswahl der Kennzahlen als subjektiv zu bezeichnen, weil der Analyst gemäß seiner eigenen Erfahrung eine Auswahlentscheidung trifft. Dieses Problem lässt sich auch nicht durch die Anwendung eines allgemein bekannten Kennzahlensystems beheben, da sich der Analyst (auch) subjektiv zwischen vordefinierten subjektiv gebildeten Kennzahlenkatalogen entscheidet. Damit wird das Objektivierungsprinzip verletzt, weil bei der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse keine objektiven Verfahren verwendet werden (können), um die für das Urteil relevanten Kennzahlen auszuwählen, zu gewichten und zusammenzufassen.
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Die üblichen Kennzahlen der klassischen Jahresabschlussanalyse sind nicht darauf angelegt, bilanzpolitische Maßnahmen zu neutralisieren; bei ihrer Verwendung geht der Bilanzanalytiker zumeist implizit davon aus, dass keine Bilanzpolitik vom Bilanzierenden gemacht wird.[113] Ein auf diese Weise gewonnenes Ergebnis der klassischen Jahresabschlussanalyse wäre indes durch bilanzpolitische Maßnahmen verfälscht, sofern das zu analysierende Unternehmen das Bild seiner wirtschaftlichen Lage durch bilanzielle Ansatz- und Bewertungswahlrechte, Ermessensspielräume sowie durch bilanzpolitisch motivierte Sachverhaltsgestaltungen (sog. financial engineering) geschönt oder auch verschlechtert hat.[114] Das Neutralisationsprinzip wird verletzt.
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Die mit der klassischen Jahresabschlussanalyse gewonnenen Teilurteile über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage können zudem widersprüchlich sein, wenn diese Teilurteile über ein und dasselbe Unternehmen teils eine bestimmte gute Teillage und teils eine andere bestimmte schlechte wirtschaftliche Teillage indizieren. Mit Hilfe einiger weniger ausgesuchter Kennzahlen kann der Bilanzanalytiker zwar auf einfache Weise ein subjektives Vor-Urteil bilden. Dabei ist indes nicht sichergestellt, dass alle für das Urteil relevanten Kennzahlen in seine Beurteilung einbezogen werden. Dem Ganzheitlichkeitsprinzip wird also nicht entsprochen. Somit ist nicht gewährleistet, dass sämtliche für eine Beurteilung der Existenzgefährdung des Unternehmens tatsächlich und empirisch relevanten Kennzahlen ausgewählt worden sind.[115]
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Der Jahresabschluss als Informationsbasis für die klassischen Verfahren der Jahresabschlussanalyse ist zumindest bei Kapitalgesellschaften leicht verfügbar, weil diese zur Offenlegung ihres Jahresabschlusses verpflichtet sind. Die Daten können indes nicht direkt aus dem Jahresabschluss für die Kennzahlenberechnung verwendet werden. Sie müssen zunächst aufbereitet werden (vgl. Rn. 161 f.). Der Aufwand für die Datenaufbereitung sollte mit dem Informationsnutzen aus der Analyse verglichen werden, um die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens zu wahren.
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Die klassische Jahresabschlussanalyse ist vergangenheitsorientiert, weil das Urteil mit den gesetzlich vorgeschriebenen vergangenheitsbezogenen Jahresabschlüssen gebildet wird. Die Aussagekraft der Jahresabschlussanalyse wird darüber hinaus geschmälert, wenn die Jahresabschlüsse – wie häufig in der Praxis – erst Monate nach dem Bilanzstichtag vorgelegt werden.[116] Vor diesem Hintergrund ist die Erfüllung des Frühzeitigkeitsprinzips in Frage zu stellen (vgl. Rn. 106).
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Um alle diese Mängel der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse zu vermeiden, sind Analyseverfahren entwickelt worden, die mit einer sehr großen Zahl an Jahresabschlüssen von solventen und von später insolventen Unternehmen sowie mit bilanzpolitik-konterkarierenden Kennzahlen die Lage des Unternehmens an typischen Kennzahlenmustern von später insolvent werdenden Unternehmen beurteilen. Damit steht die sog. „moderne“ Jahresabschlussanalyse zur Verfügung, mit der aktuelle Jahresabschlüsse auf die derzeitige und künftige Bestandsfestigkeit des betreffenden Unternehmens geprüft werden können. In der Folge werden die modernen Verfahren der Bilanzanalyse vorgestellt. Zu prüfen ist, ob bei diesen Verfahren die in Rn. 102 ff. genannten Anforderungen erfüllt werden.
5.3.1 Überblick
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Unter „modernen“ Verfahren der Jahresabschlussanalyse werden Bilanzratingsysteme verstanden, bei denen die Kennzahlen zur Beurteilung der (Bilanz-)Bonität von Unternehmen mit Hilfe von empirisch-statistischen Verfahren aus einem großen Katalog (auch von bilanzpolitik-neutralisierenden) Kennzahlen als die typischen Kennzeichen für Bestandsfestigkeit ausgewählt und gewichtet werden. Ziel dieser Verfahren ist es, die aktuelle wirtschaftliche Lage und auch die künftige wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens auf Basis einer Zeitreihe von dessen letzten Jahresabschlüssen zu beurteilen. Mit Hilfe der Verfahren soll eine Aussage zum Ausmaß der Existenzgefährdung eines jeden Unternehmens gemacht werden.[117]
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Da die im Jahresabschluss dargestellte wirtschaftliche Situation des Unternehmens durch bilanzpolitische Maßnahmen beeinträchtigt sein kann, ist generell zu versuchen, die genutzten Ansatz- und Bewertungswahlrechte, Sachverhaltsgestaltungen und Ermessensspielräume durch die Bildung sog. „intelligenter“ Kennzahlen zu neutralisieren. Die Kennzahlen werden hierzu nach dem Prinzip „Creative accounting needs creative analysing“[118] modifiziert, d.h. dass möglichst alle denkbaren bilanzpolitischen Maßnahmen konterkariert werden.[119]
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Als mathematisch-statistische Verfahren wurden zur Entwicklung der modernen Verfahren der Jahresabschlussanalyse u.a. die Multivariate Diskriminanzanalyse, die Künstliche Neuronale Netzanalyse und die Logistische Regression mit großem Erfolg eingesetzt. Im Gegensatz zur klassischen Jahresabschlussanalyse werden die Auswahl, die Gewichtung und die Zusammenfassung einzelner Kennzahlen