Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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und trat an die Tür der Kat­zen­müh­le, wo der an­de­re schon stand und die Stirn an den mor­schen Pfos­ten lehn­te.

      Stumm wies er in das Haus, sah den Sohn in die Stu­be der Mut­ter tre­ten und ging, ohne sich um­zu­se­hen, al­lein wei­ter, zu­rück durch das enge Tal. Schnell eil­te er auf der Land­stra­ße durch Flie­gen­hau­sen und dann fast im Lauf nach Bums­dorf, dem Va­ter­hau­se zu.

      Frü­her be­schrit­te­ne Wege, ist das nicht et­was, das zu dem Schöns­ten oder Schlimms­ten im mensch­li­chen Le­ben zu rech­nen ist? Wo der Pfad führ­te, durch die Ein­öde oder die wim­meln­den Gas­sen ei­ner großen Stadt, über die stil­le Wie­se, der grü­nen He­cke ent­lang oder durch den grü­nen Wald, es re­det über­all der Bo­den un­ter den Fü­ßen und mahnt: Erin­ne­re dich, er­in­ne­re dich!

      Es gibt kaum et­was Weh­mü­ti­ge­res als schon ein­mal be­schrit­te­ne Wege, selbst wenn sie zum Glücke führ­ten; denn nichts lehrt so ein­dring­lich als sie, in wel­chem Trau­me die Men­schen wan­deln.

      Fort­wäh­rend ein Schall gleich dem Tritt ei­nes Ros­ses im Ohr, fort­wäh­rend ein wei­ßer Schein wie von ei­nem wei­ßen Pfer­de in der Däm­me­rung zur Sei­te, trotz der Ge­dan­ken an den ster­ben­den oder ge­stor­be­nen Va­ter! Wie hat­te der Wan­de­rer einst in das Ge­sicht der schö­nen Rei­te­rin und Kran­zwin­de­rin ge­blickt und ewi­ge Ju­gend und alle Hei­ter­keit und Herr­lich­keit des Da­seins da ge­fun­den, wo sich die Fal­ten des Al­ters, der Sor­ge, der tiefs­ten Le­bens­not zu­sam­men­zo­gen! Was war noch üb­rig von al­le­dem, was sich vor zwei kur­z­en Jah­ren mit dem schö­nen, la­chen­den Haupt in je­ner Mond­schein­nacht aus dem Ge­büsch, aus dem Bo­den der Hei­mat er­ho­ben hat­te?

      »Dem Man­ne ein Schwert, dem Wei­be das schwar­ze Brot der Frau Klau­di­ne!« mur­mel­te der Wan­de­rer, des­sen Pfad sich durch so vie­le Trüm­mer und Täu­schun­gen wand.

      Da war die Höhe, und wie­der la­gen die dun­keln Tä­ler zu den Fü­ßen Leon­hard Ha­ge­bu­chers; aber er trug jetzt nicht mehr eine Kornäh­re in der Hand.

      »Krieg! Krieg!« rief er laut hin­aus. »Krieg für alle, denn wir wol­len ihn alle! Die Tä­ler sol­len sich re­gen und die Hö­hen von Waf­fen leuch­ten, und wer die Schlacht über­lebt, dem soll’s er­laubt sein, sich zu wun­dern über den Sieg.«

      Er horch­te, als ob jetzt der Klang von tau­send Trom­pe­ten die Nacht durch­bre­chen müs­se, und als es nun doch still­b­lieb, dach­te er von neu­em an den al­ten wun­der­li­chen Va­ter und wie er den­sel­ben so sehr ge­är­gert und in sei­nen ein­fachs­ten und na­tür­lichs­ten Er­war­tun­gen ge­täuscht habe. Da­durch wur­de er wie­der schnel­ler vor­wärts ge­trie­ben, bis der Brun­nen, aus wel­chem er vor ei­nem Jah­re als ein gan­zer Narr und ein hal­ber Ver­lieb­ter trank, an der Land­stra­ße vor ihm rausch­te. Da­mals war er, wie wir wis­sen, län­ge­re Zeit nie­der­ge­ses­sen, um sich über die neu her­vor­bre­chen­den Quel­len der Hoff­nung, des Le­bens­mu­tes zu freu­en; dies­mal hielt er bloß einen flüch­ti­gen Au­gen­blick an, um wie in je­ner Som­mer­nacht von dem kla­ren Strahl zu trin­ken. Als er sich auf­rich­te­te, lä­chel­te er doch wie­der, trotz al­lem, was ihn be­dräng­te. Und so wan­del­te er für­der und gab in Ge­dan­ken sei­nem ar­men Freun­de, dem träu­men­den Schnei­der Fe­lix Täu­brich, ge­nannt Täu­brich-Pa­scha, von al­len Emp­fin­dun­gen, Ge­füh­len, Wor­ten und Hand­lun­gen des heu­ti­gen Ta­ges Be­richt, bis er den ers­ten Bums­dor­fer Hahn krä­hen hör­te. Da­mit ver­san­ken alle Ge­stal­ten, die au­ßer­halb des Va­ter­hau­ses in sei­nem Ge­sichts­kreis sich be­weg­ten, selbst die der Frau Klau­di­ne und des Herrn van der Mook. Die Fa­mi­lie trat zum ers­ten Mal wie­der ganz und gar in den Vor­der­grund, und na­tur­ge­mäß muss­te je­der Streit und Kampf für und um die ei­ge­ne Exis­tenz oder die an­de­rer auf­hö­ren; denn es lag ein Ster­ben­der oder ein To­ter in der Fa­mi­lie, und die To­ten ver­ste­hen es, Stil­le zu ge­bie­ten. –

      Der Hahn kräh­te, aber er be­dach­te sich, und in­dem er nach der Uhr zu se­hen schi­en, schloss er den Schna­bel, ehe er sei­nen Weck­ruf voll­stän­dig her­vor­trom­pe­tet hat­te. In den war­men Stäl­len reg­ten sich die Kühe, und ein Gaul schi­en un­ter ei­nem schwe­ren Traum zu lei­den und wur­de von ei­nem er­bos­ten schlaf­trun­ke­nen, flu­chen­den Knech­te zur Ruhe ver­wie­sen. Mit­ter­nacht war kaum vor­über, als der Wan­de­rer am Ende der Dorf­gas­se das ein­zi­ge Licht des Dor­fes, das Licht in der Kam­mer sei­ner El­tern, zu Ge­sicht be­kam, und im hef­tigs­ten Lau­fe er­reich­te er das Haus.

      Der sonst so zier­lich ge­glät­te­te Kies in den We­gen des Gar­tens war von vie­len Fuß­trit­ten zer­stampft, ja so­gar der Buchs­baum, wel­cher die Bee­te ein­fass­te, der Stolz des Al­ten, war an meh­re­ren Stel­len nie­der­ge­tre­ten. Die Hau­stü­re stand of­fen, und schwer fiel die­ses deut­lichs­te Zei­chen, dass der Herr des Hau­ses nicht mehr über dem Sei­ni­gen wa­che, dem Soh­ne auf das Herz.

      Die Schlüs­sel la­gen nicht mehr un­ter dem Kopf­kis­sen des Steue­rin­spek­tors Ha­ge­bu­cher; eine in Schmerz und Schre­cken zit­tern­de Hand hat­te sie un­ter dem sorg­li­chen, sor­gen­vol­len, ängst­li­chen Haup­te her­vor­ge­zo­gen – das mäch­tigs­te Kö­nig­reich kann auf die glei­che Wei­se zer­fal­len oder in die Ge­walt ei­nes an­de­ren über­ge­hen.

      Auf dem Flur stieß Leon­hard auf einen feuch­ten Man­tel und einen Mann drin, auf den Reichs­vi­kar des Hau­ses Ha­ge­bu­cher, den Vet­ter Was­ser­tre­ter, der so­eben einen Er­fri­schungs­lauf durch den Gar­ten und das Dorf ge­macht hat­te, jetzt den Afri­ka­ner mit ei­nem lei­sen »Wer da?« emp­fing, ihn so­dann in höchs­ter Über­ra­schung in die Arme schloss, um ihm das ewi­ge, trost­lo­se »Zu spät!« zu­zu­flüs­tern.

      Wie die Frau Klau­di­ne wuss­te auch er sich die­ses plötz­li­che Er­schei­nen Leon­hards nicht zu er­klä­ren; aber noch war die Zeit für sol­che Er­klä­run­gen nicht ge­kom­men.

      »Ge­gen neun Uhr ist er ge­stor­ben«, sag­te er. »Herr­gott, welch ein Trost, dass du da bist! O Leon­hard, ich, ich habe ihn auf dem Ge­wis­sen, und wenn er auch einen schö­nen Tod hat­te, so ver­zei­he ich es mir doch mein Le­ben lang nicht, ihm dazu ver­hol­fen zu ha­ben. Willst du dich erst fas­sen, mein Jun­ge, oder soll ich dir mei­ne Beich­te auf der Stel­le ab­le­gen?«

      »Was macht die Mut­ter? Wo ist die Schwes­ter?« frag­te Leon­hard, die ei­gen­tüm­li­che Selbst­an­schul­di­gung des We­ge­bau­in­spek­tors we­nig be­ach­tend.

      »Sie sind na­tür­lich au­ßer sich!« rief der Vet­ter Was­ser­tre­ter. »Aber auch sie wird dei­ne An­kunft un­mensch­lich trös­ten.«

      Er öff­ne­te dem Afri­ka­ner die Tür der Wohn­stu­be im un­tern Stock­werk des Hau­ses und führ­te ihn in die­ses Ge­mach, worin vor­dem je­ner große Fa­mi­li­en­rat un­ter dem Vor­sitz der Tan­te Schnöd­ler ge­hal­ten wur­de.

      »Ich will das Kind ru­fen. Die Alte sitzt na­tür­lich ne­ben dem Al­ten und will nicht da­von wei­chen. Wär­me dich, wenn du es kannst, und ma­che dem ar­men klei­nen Mäd­chen das rech­te Ge­sicht, sie hat es nö­tig.«

      Der Vet­ter zog lei­se die Tür hin­ter sich zu, und Leon­hard stand in dem dun­keln Zim­mer, in wel­chem noch ein letz­ter war­mer Hauch des er­kal­ten­den Ofens schweb­te. Die Uhr, wel­che der Va­ter noch auf­ge­zo­gen hat­te, setz­te ih­ren Weg durch die Zeit auch jetzt in ih­rem Win­kel fort; der


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