Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


Скачать книгу
Ar­men lehn­te er an dem Ti­sche, bis Lina mit ei­nem Lich­te in der Hand her­ein­schwank­te und ihr blei­ches, ent­setz­tes, trä­nen­über­ström­tes Ge­sicht an der Brust des Bru­ders ver­barg.

      »Der Va­ter, der arme Va­ter, der Va­ter ist tot!« mehr ver­moch­te sie nicht her­vor­zu­brin­gen; aber Leon­hard Ha­ge­bu­cher hät­te nun doch viel­leicht man­chen Re­gen­tag sei­nes Le­bens hin­ge­ge­ben, wenn er da­für in die­ser Stun­de nur ei­ni­ge sol­cher er­fri­schen­den Trä­nen, wie das jun­ge, zit­tern­de, furcht­sa­me Ding in sei­nen Ar­men wein­te, hät­te ein­tau­schen kön­nen. Er hat­te zu lan­ge in der Frem­de und in der Hei­mat un­ter den Wil­den ge­lebt und hat­te von man­ches Men­schen Tode ge­hört oder gar ihn ster­ben se­hen, um bei sol­cher Ge­le­gen­heit noch über das köst­li­che Nass ver­fü­gen zu kön­nen.

      Da­für sprach er aber umso bes­ser und ver­ständ­li­cher lei­se, schmei­cheln­de Tros­tes­wor­te zu der klei­nen Trost­lo­sen und trug sie dann mehr, als dass er sie führ­te, die Trep­pe hin­auf, zu der al­ten Frau.

      »Ach, das ist ein so großes Grau­en! Es ist mir so sehr fürch­ter­lich, und ich schä­me mich, denn ich habe ihn doch so lieb­ge­habt und habe ihn so lieb –«

      »Wo ist der Vet­ter, mein Herz­chen?« frag­te der Bru­der.

      »Auch dort drin­nen bei der Mut­ter und – und dem Va­ter.«

      »Ich schi­cke ihn dir her­aus. Sei ru­hig; wir müs­sen nun recht wa­cker zu­sam­men­hal­ten. Mein ar­mes Kind, al­les wird ja zu sei­ner Zeit zu ei­nem Ding, wel­ches an­fängt: Es war ein­mal! Fas­se dich, Lina, auch die­se böse Nacht wird ver­ge­hen; es ist üb­ri­gens kein Un­recht, Re­spekt vor den To­ten zu ha­ben, sie fürch­tet man nur dann nicht mehr, wenn man an­fing, die Le­ben­den sehr zu fürch­ten.«

      Mit zärt­li­cher Sorg­lich­keit setz­te er nun die Schwes­ter auf einen Stuhl, wel­cher vor der Kam­mer der El­tern stand, und den Leuch­ter zu ih­ren Fü­ßen nie­der, dann trat er ein in das Ster­be­ge­mach, wink­te dem Vet­ter Was­ser­tre­ter hin­aus und fass­te dar­auf sanft die alte Frau ne­ben der Lei­che in die Arme, und we­nig lässt sich über die­ses Wie­der­se­hen, die­se trau­ri­ge Be­grü­ßung sa­gen: der alte stum­me Herr spiel­te eben die Haupt­per­son da­bei, und der war schon zu Leb­zei­ten nicht auf vie­le und un­nö­ti­ge Wor­te ein­ge­rich­tet.

      Da lag er! Durchaus nicht gel­ber und ver­drieß­li­cher als in den hei­ters­ten und be­hag­lichs­ten Mo­men­ten sei­nes Da­seins, aber je­den­falls eben­so gelb und ver­drieß­lich.

      »Er war so gut, so gut!« schluchz­te die alte Dame. »Vier­zig Jah­re ha­ben wir mit­ein­an­der ge­hau­set und Leid und Freu­de mit­ein­an­der ge­tra­gen. Es weiß nie­mand so als ich, wie gut er war, wenn man ihm sei­nen Wil­len tat. Nim­mer hat er mir ein bö­ses Wort ge­sagt, und nun liegt er da. Vor­ges­tern noch beim Kaf­fee hat er al­les ein­ge­rich­tet, wo die Boh­nen ge­pflanzt wer­den soll­ten und wo der Salat und die Erb­sen, und es war ganz ge­gen mei­ne Mei­nung, aber ich habe sie wie­der ein­mal nicht durch­ge­setzt, und das ist mein ein­zi­ger Trost in die­ser Stun­de. Tot, tot, ja, ihr habt gut sa­gen, es sei so; ich muss mich noch lan­ge­hin be­sin­nen, ob es wirk­lich wahr ist und ob es wirk­lich mög­lich sein kann. Vier­zig Jah­re, vier­zig Jah­re, und nun, als ob es al­les nichts ge­we­sen sei! Ich kann nicht dran glau­ben! O Leon­hard, ich freue mich, dass du ge­kom­men bist, aber hel­fen kannst du dei­ner al­ten Mut­ter auch nicht, der kann nie­mand hel­fen.«

      »Was soll aus dem Hau­se und al­lem, was dazu ge­hört, wer­den, wenn du es und uns auf­ge­ben willst, Mama?« frag­te der Sohn mit rüh­ren­der Lis­tig­keit. »Es geht jetzt schon al­les drun­ter und drü­ber, wie wird das erst mor­gen aus­se­hen! Da ist denn doch noch ein Trost, dass der Va­ter den Jam­mer und die Ver­wahr­lo­sung nicht mehr se­hen wird, denn es wür­de ihn sehr är­gern. Solch ein ak­ku­ra­ter Mann! Ich glau­be si­cher, Mama, du tä­test ihm nun gra­de die rech­te Lie­be an, wenn du dich zu­sam­men­näh­mest und an sei­ner Stel­le Ord­nung hiel­test und al­les, was ihm am Her­zen lag, nach sei­ner Wei­se ver­sorg­test! Ich glau­be, du musst dich jetzt in je­der Art scho­nen, dass du Kräf­te be­hältst; du weißt, spa­ßen ließ er nicht mit sich, und dass er ein­mal eine ganz ge­naue Re­chen­schaft ver­langt, das ist mir un­zwei­fel­haft, wie ich ihn ken­ne.«

      »Das wird er, mein Kind! Jaja, ich sehe es wohl ein, und ich will auch tun, was men­schen­mög­lich ist; aber ich fürch­te mich schon jetzt, an sei­ne Schieb­la­den und Kas­ten und Re­chen­bü­cher zu rüh­ren; er war so sehr ei­gen.«

      »Wer soll­te es aber sonst ihm zu Dank ma­chen? O Mama, jetzt brin­ge ich dich zu der ar­men Lina, und du musst mit ihr zu Bett ge­hen. Er passt uns ganz si­cher auch von da oben auf die Fin­ger, und die Ver­wandt­schaft wird eben­falls mit dem frü­he­s­ten kom­men, ihm die letz­ten Ehren an­zu­tun, und nichts ist vor­ge­rich­tet. O Mama, was soll dar­aus wer­den, wenn du uns und ihm nicht bei Kräf­ten bleibst?«

      Die­ses war die rech­te Art, zu trös­ten und zu kräf­ti­gen, sie führ­te also auch bes­ser zum Zweck als hun­dert wei­ner­li­che Sen­ti­men­ta­li­tä­ten. Es ge­lang, die alte Frau aus der schwü­len Kam­mer zu ent­fer­nen und sie un­ter Bei­hil­fe des We­ge­bau­in­spek­tors der Schwes­ter zu über­ge­ben. Nach­dem die­ses ge­sche­hen war, öff­ne­te Leon­hard Ha­ge­bu­cher mit ei­nem tie­fen Seuf­zer die Fens­ter und ließ die win­ter­li­che Luft hin­ein in das dump­fi­ge Ster­be­ge­mach. Nun kräh­ten die Häh­ne von neu­em, aber die­ses Mal mit vol­lem Rech­te, es war Mor­gen ge­wor­den. Der Vet­ter Was­ser­tre­ter trat wie­der ein und sag­te:

      »Gott­lob, end­lich ha­ben sie Ver­nunft an­ge­nom­men und sind ins Bett ge­kro­chen, bei­de in ein Bett und in den vol­len Klei­dern. Nun wer­den sie sich in den Schlaf wei­nen, aber der­sel­be soll ih­nen nichts­de­sto­we­ni­ger eben­so ge­seg­net sein wie uns die­ser fri­sche Nord­wind. Ah, wel­che Wohl­tat!«

      Die bei­den Män­ner stan­den jetzt wie­der ne­ben dem To­ten und be­trach­te­ten ihn schwei­gend.

      In tie­fem Gra­me dach­te Leon­hard dar­an, mit wel­chem Glan­ze er so oft wäh­rend sei­ner Ge­fan­gen­schaft die­ses Haupt um­klei­det ge­se­hen hat­te und wie nun nicht eine sei­ner wür­di­gen und schö­nen Fan­tasi­en zur Wirk­lich­keit ge­wor­den sei. Er grü­bel­te aber, zu sei­ner Ehre sei’s ge­sagt, nicht sei­ner selbst we­gen dar­über nach; ein un­end­li­ches Mit­leid mit dem al­ten Mann, der aus so tau­sen­der­lei klei­nen und nich­ti­gen Küm­mer­nis­sen und Sor­gen sein Le­ben spann, be­herrsch­te ihn ganz und gar und re­gier­te alle sei­ne Ge­dan­ken. Er quäl­te sich bit­ter da­mit, Selbst­vor­wür­fe aus al­len Win­keln sei­ner Brust zu­sam­men­zu­schar­ren; aber wie er sich auch an­stell­te, der Alte tat’s nicht, auf kei­ne Wei­se pass­te er als weiß­lo­cki­ger Pa­tri­arch auf die Bank un­ter den Lin­den­baum, um wei­se Leh­ren und wür­di­ge Le­bens­er­fah­run­gen ei­nem ehr­furchts­vol­len, lau­schen­den Krei­se mit­zu­tei­len.

      »Lass es gut sein, Leon­hard«, sag­te end­lich der Vet­ter, »wir wol­len nicht bloß den Frau­en gute Leh­ren ge­ben, wir wol­len sel­ber uns da­nach hal­ten.«

      »Jaja«, sprach Leon­hard trau­rig, »das wer­den wir wohl müs­sen. Jetzt aber –«

      »Jetzt willst du mei­ne Beich­te und wün­schest zu er­fah­ren, wie das Un­glück sei­nen Weg ins Haus fand. Lei­der kann ich im­mer nur wie­der­ho­len, dass ich ein­zig und al­lein die Schuld tra­ge und mir grad, weil al­les in der bes­ten Ab­sicht ge­sch­ah,


Скачать книгу