Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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auf die­se Frau und wagt es, Eu­ern Ge­winn vor ihr zu zäh­len! Sie lag un­ter berg­ho­hem Jam­mer ver­schüt­tet, die Fein­de wa­ren in ihr Al­ler­hei­ligs­tes ge­drun­gen, sie war ver­nich­tet in ih­ren Ge­füh­len als Gat­tin und Mut­ter, aus ih­rer Hei­mat war sie in die Wüs­te ge­jagt und dort al­lein ge­las­sen wor­den, und sie brauch­te nicht wie wir an die Brust zu schla­gen und zu sa­gen: Es ist nur mein Recht, was mir wi­der­fährt! Wie ste­hen wir ihr ge­gen­über, Vik­tor Feh­ley­sen? Die Welt hat­te ihr nichts ge­las­sen, und heu­te weiß sie ih­res Schat­zes kein Ende. Wir sind die Bett­ler, sie ist die Rei­che; mit lee­ren Hän­den kom­men wir zu ihr, und sie al­lein kann uns ge­ben, was wir be­dür­fen: die Kraft, den Mut, den un­er­schüt­ter­li­chen Wil­len. Ach, wie fei­ge sind wir ge­gen ihre hel­den­haf­te Ge­duld! Sie lag tiefer ge­beugt als wir alle, aber lei­se rich­te­te sie sich auf und füll­te die Wüs­te mit ih­rer Hoff­nung. Sie saß still in der Ein­sam­keit, rech­te­te mit nie­mand und wies nur den Zorn, den Hass und die Ra­che von ih­rer of­fe­nen Tür fort. Ja, ihre Tür war of­fen, und die Tage zo­gen an der­sel­ben vor­über und sa­hen fremd und be­frem­det hin­ein; die Frau Klau­di­ne aber lä­chel­te ih­nen ent­ge­gen: Was wun­dert ihr euch? Frei­lich sit­ze ich hier und lebe und spin­ne an mei­nem schöns­ten Fei­er­tags­ge­wan­de; – ihr kommt, sucht eine Ge­stor­be­ne und fin­det eine Le­ben­de; ja, ich lebe und will le­ben; – wie die Zwei­ge des Wal­des mir in mein Fens­ter wach­sen, so drän­gen sich die lich­ten Ge­dan­ken in mein Herz; – ich baue für mei­ne Kin­der, die in der wil­den Welt um­her­ir­ren, ein neu­es Haus, einen neu­en Herd, an wel­chem sie einst nie­der­sit­zen wer­den, mir von ih­ren Mü­hen und Lei­den zu er­zäh­len – was soll­te dar­aus wer­den, wenn ich nicht still­b­lie­be und den ar­men Wan­de­rern, den Ge­jag­ten und Ver­folg­ten eine Frei­statt of­fen­hiel­te?! – Wahr­lich, es ist nicht al­lein der Hel­den und Kö­ni­ge Sa­che, zu ru­fen: Son­ne, ste­he still und leuch­te der Vollen­dung un­se­rer Sie­ge! Auch der Schwächs­te, der Ärms­te, der Ge­rings­te kann den glanz­vol­len Stern über sei­nem Haup­te und Her­zen fest­hal­ten, bis al­les voll­bracht ist, und die Frau Klau­di­ne konn­te es. Jetzt, wo die Nacht um uns dunk­ler denn je zu­vor ist, kom­men wir zu ihr und bit­ten um ein Fünk­lein Licht – wie kön­nen wir ge­ret­tet wer­den, wenn nicht ihr Mut zu un­serm Mut, ihr Glück zu un­serm Glück wird, wenn wir uns nicht zu ihr, auf ihr Feld stel­len und in dem mil­den Schei­ne ih­rer Son­ne ihre Göt­ter an­ru­fen?!«

      »Er hat si­cher­lich die Wahr­heit ge­spro­chen, Mama!« rief Vik­tor Feh­ley­sen mit be­ben­der Stim­me. »Wir ha­ben uns nur zu schä­men, und du hast den Sieg in­ner­halb und au­ßer­halb dei­ner Wäl­le ge­won­nen. Ich habe über­haupt kei­ne Stim­me mehr im Rat und will ge­hen und ste­hen, wie du es be­fiehlst. Aber auch die an­de­ren sol­len dei­nem Kom­man­do ge­hor­chen. Wenn ich bes­ser spre­chen könn­te und nicht in je­dem Au­gen­blick das Gleich­ge­wicht ver­lö­re, wür­de ich es ih­nen schon sa­gen. Der da aus Abu Tel­fan ver­steht das Ding gut ge­nug und hat es auch schon be­wie­sen in der Höh­le des Leut­nants Kind; – Fluch und Wehe über mich, lass ihn Wa­che hal­ten vor Ni­ko­las Tür! Einst fand ich je­nen Fried­rich von Glim­mern auf al­len mei­nen We­gen; nun steht die­ser hier über­all da, wo ich ste­hen soll­te, und dass bei­des ver­drieß­lich für mich ist, weiß ich; doch was mir am meis­ten Schan­de bringt, hab ich noch nicht her­aus­ge­klü­gelt, hof­fe es aber mit der Zeit und Wei­le noch her­aus­zu­be­kom­men.«

      »Mein Kind, mein Kind, du bist im Hau­se dei­ner Mut­ter!« rief Frau Klau­di­ne. »Dei­ne Mut­ter tritt zwi­schen dich und die­ses Grü­beln, Rech­nen und Rech­ten über und um das Ver­gan­ge­ne. Leon­hard Ha­ge­bu­cher hat recht, ich woll­te ein neu­es Haus, einen neu­en Herd bau­en für mei­ne Kin­der, denn ich wuss­te, dass sie zu mir zu­rück­keh­ren wür­den – wie sie kom­men moch­ten, das küm­mer­te die Mut­ter nicht. Ich habe Fei­er­tags­klei­der ge­webt für mich und für die Mei­ni­gen, und wir wol­len sie alle tra­gen, alle, alle! Und jetzt, Leon­hard, sa­gen Sie uns von Ihrem trau­ern­den Va­ter­hau­se, von der Mut­ter und der Schwes­ter; ach, die nächs­ten Grä­ber ver­lie­ren oft über dem Le­ben ih­ren An­spruch an uns; aber mei­ne Ge­dan­ken sind doch im­mer bei Ih­nen und den Ih­ri­gen ge­we­sen, mein Freund!« –

      Sie spra­chen nun von dem Tode und dem Be­gräb­nis des wa­cke­ren Steue­rin­spek­tors und wie der Vet­ter Was­ser­tre­ter so treu und trotz al­ler Be­trüb­nis so lus­tig zu dem Haus Ha­ge­bu­cher ste­he. Der Herr van der Mook saß stumm im Win­kel, hielt den klu­gen Kopf des Spit­zes zwi­schen den Kni­en und hielt sei­nen ei­ge­nen Kopf tief ge­senkt. Die Frau Klau­di­ne sprach in­nig teil­nahms­voll von den Ver­hält­nis­sen und Zu­stän­den Leon­hards, aber den Sohn ließ sie doch kaum einen Au­gen­blick aus den Au­gen, im­mer such­te ihn ihr un­ru­hi­ger Blick über die Schul­ter; und mehr als ein­mal streck­te sie, ohne es zu wis­sen, die Hand aus, als su­che sie die sei­ni­ge, wie in großer Angst, dass er sich er­he­ben, vor die Tür tre­ten und nim­mer wie­der­keh­ren wer­de. Der Herr van der Mook reg­te sich je­doch kaum, bis im Ver­lau­fe des Ge­sprächs wie­der ein­mal der Name Ni­ko­la von Glim­mern ge­nannt wur­de. Da sprang er so jäh auf, dass der er­schreck­te Hund mit ei­nem Laut der Angst vor ihm zu­rück­fuhr. Hef­tig fass­te er den Arm Ha­ge­bu­chers und rief:

      »Sei mein Freund und ste­he mir bei! Ich bin nur wie ein Mann, der aus ei­nem Ha­schisch­rausch er­wacht, ein Kind kann mich mit dem Ver­stand und mit der Hand meis­tern. Wann gehst du zu­rück nach der Haupt­stadt? Den­ke für mich, hand­le für mich; ich fas­se dei­ne Hand, wie du die mei­ni­ge zu Abu Tel­fan im Tu­mur­kie­lan­de fass­test!«

      »Ach, wenn man nur mit den Mäch­ten der Zi­vi­li­sa­ti­on han­deln könn­te wie mit den Bar­ba­ren am Mond­ge­bir­ge!« seufz­te Leon­hard kopf­schüt­telnd. »Nur die Frau Klau­di­ne wird uns alle ret­ten. Sie al­lein hat den Zau­ber­stab, der die Win­de bän­digt und die Wel­len eb­net; sie al­lein ist reich ge­nug, das Lö­se­geld auf­zu­brin­gen, wel­ches die See­len frei macht von den Ban­den der Knecht­schaft; sie hat das Brot und Was­ser des Le­bens und kann die Hun­gern­den spei­sen, die Dürs­ten­den trän­ken. Ni­ko­la von Ein­stein aber weiß das, hat es am volls­ten und klars­ten er­fah­ren, des­halb hab ich kaum eine Sor­ge, ge­wiss aber kei­ne Furcht um sie. Der Sturm, wel­chen wir nur auf­hal­ten, nicht ver­bie­ten kön­nen, wird ihr schö­nes Haupt tief beu­gen, doch den Baum ih­res Le­bens wird er nicht ent­wur­zeln. Einst hat sie mir von ei­nem Bür­ger­recht in ei­nem Rei­che, von dem die Welt nichts wis­se, ge­spro­chen. In der rech­ten Stun­de wird sie die­sen Frei­brief vor­wei­sen, und alle da drau­ßen wer­den ihn wi­der­wil­lig oder freu­dig an­er­ken­nen müs­sen, und an die­sem Ti­sche wird sie nie­der­sit­zen und spre­chen: Mut­ter, ich dan­ke dir, dein Brot hat mich er­hal­ten!« –

      In sei­nem Stu­dier­zim­mer saß der Pro­fes­sor Chris­ti­an Ge­org Rei­hen­schla­ger, be­schäf­tigt mit dem Stu­di­um der ver­glei­chen­den Sprach­wis­sen­schaft; in ih­rem Zim­mer saß Fräu­lein Se­re­na Rei­hen­schla­ger, eben­falls mit ei­ner ver­glei­chen­den Wis­sen­schaft be­schäf­tigt. Es war ein kla­rer Ja­nu­ar­nach­mit­tag, die Son­ne blick­te hei­ter, wenn auch nicht warm in die Fens­ter, aber so licht wie der Tag war we­der die See­le des Pa­pas noch die der Toch­ter. Auf bei­den See­len näm­lich lag ein leich­ter Schlei­er, nicht der graue des Miss­mu­tes, nicht der grün­gel­be des Ver­drus­ses, son­dern der bläu­lich­vio­let­te des nicht un­be­hag­li­chen Seh­nens nach ei­nem gu­ten, ge­müt­li­chen Ka­me­ra­den, ei­nem freund­li­chen, un­ter­hal­ten­den Haus­ge­nos­sen,


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