Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Schein von hun­dert­und­fünf­zig Pech­fa­ckeln, mar­schiert der Alte mit uns zu­rück nach Nip­pen­burg, hin­ein in den glän­zend il­lu­mi­nier­ten Gol­de­nen Pfau, und die Alte und Lina wei­nen uns von der Gar­ten­tü­re aus die hel­len Freu­den­trä­nen nach. Ach, Leon­hard, wes­halb wa­rest du nicht bei uns, wes­halb hat­te ich dich nicht mit­ge­nom­men nach Nip­pen­burg? Wo wa­rest du, als er sich in sei­nem Ses­sel zu­rück­leg­te und der Stadt­phy­si­kus, der ihm ge­gen­über­saß, be­stürzt auf­sprang, die Tisch­mu­sik ab­brach und der Stadt­chir­urg, ob­gleich er sein Be­steck bei sich trug und sei­ne Lan­zet­te schnell ge­nug brauch­te, doch den Kopf schüt­tel­te?«

      »Ich ließ mir von dem Herrn van der Mook und dem Leut­nant Kind Ge­schich­ten er­zäh­len«, mur­mel­te Leon­hard; al­lein der Vet­ter fuhr in al­ler Hast fort:

      »Wir brach­ten ihn zu­rück in sein Haus, dies­mal ohne Fa­ckeln, Schüt­zen­gil­de und Stadt­mu­sik, und der Herr von Bums­dorf lief vor­auf zu den Wei­bern. Ges­tern, den gan­zen Tag, hat er still ge­le­gen, bis ge­gen neun Uhr am Abend. Bei Gott, er war doch ein an­stän­di­ger, wa­cke­rer Ge­sell in sei­ner Art, und es tut mir leid, sehr leid, und viel, viel wür­de ich drum ge­ben, wenn ich ihn ru­hig in sei­nen Gril­len und Schrul­len hät­te sit­zen­las­sen. Ach, Leon­hard, das habe ich dir nicht ver­spro­chen, als ich am Diens­tag vor dem Ho­tel de Prus­se in den Wa­gen stieg und dir ver­sprach, den Al­ten her­um­zu­brin­gen!«

      Leon­hard Ha­ge­bu­cher hat­te den Vet­ter Was­ser­tre­ter spre­chen las­sen, ohne ihn zu un­ter­bre­chen, doch ohne mehr als die Haupt­zü­ge, den Kern des Be­rich­tes, auf­zu­fas­sen; am Schlus­se des­sel­ben drück­te er ihm nichts­de­sto­we­ni­ger die Hand und seufz­te:

      »Es war wohl­ge­meint, Vet­ter, und dar­an wol­len wir uns hal­ten, al­les üb­ri­ge ist nicht in un­se­re Hän­de ge­legt. Ich dan­ke Euch herz­lich, Vet­ter, Ihr habt Euer Bes­tes ge­tan, wenn­gleich auf Eure Wei­se. Was aber wird jetzt das nö­tigs­te sein? Ist schon in ir­gend­ei­ner Art für die nächs­ten Tage vor­ge­sorgt, oder –«

      Ein schnar­ren­der Ton be­wog den Afri­ka­ner, sich schnell um­zu­wen­den: der Vet­ter Was­ser­tre­ter hat­te die Hän­de im Schoß zu­sam­men­ge­legt und schlief fest auf sei­nem Stuh­le ne­ben dem Bet­te; er muss­te mit dem letz­ten Wor­te sei­ner Er­zäh­lung ein­ge­schla­fen sein. Auf den Ze­hen ging Leon­hard zu den Fens­tern und schloss sie lei­se nach ei­nem letz­ten Blick in die Mor­gen­däm­me­rung. Er woll­te wa­chen, er muss­te wa­chen, doch auch er nahm einen Ses­sel zu Häup­ten der Lei­che und ver­such­te es, sei­ne Ge­dan­ken so klar zu hal­ten wie sei­nen Wil­len.

      Das war schwer und er­wies sich bald so­gar als eine Un­mög­lich­keit. Es hät­te eine über­mensch­li­che Kraft dazu ge­hört, un­ter den Auf­re­gun­gen der letz­ten Wo­che ad si­de­ra tol­le­re vul­tus, d.h., die Nase so zu tra­gen, wie es die Na­tur­ge­schich­te vom Men­schen ver­langt.

      Fünf Mi­nu­ten noch be­hielt Leon­hard das star­re Ge­sicht des Va­ters un­ver­wandt im Auge; dann füll­te sich das Ge­mach mit ei­nem Ne­bel und die­ser Ne­bel mit ei­nem He­xen­tanz al­les des­sen, was die Wo­che so bunt ge­macht hat­te. Der gas­licht­er­hell­te, men­schen­ge­füll­te Saal der Vor­le­sung, der Herr von Bet­zen­dorff, der Herr von Glim­mern, die Frau von Glim­mern, der Pro­fes­sor Rei­hen­schla­ger und Se­re­na Rei­hen­schla­ger, der Herr van der Mook – die Stu­be des Leut­nants Kind und der Leut­nant Kind selbst – der Weg nach der Kat­zen­müh­le, die Müh­le und die Frau Klau­di­ne – der Weg nach Bums­dorf – das ver­stör­te Va­ter­haus, der tote Va­ter, die Er­zäh­lung des Vet­ters Was­ser­tre­ter und, selt­sa­mer­wei­se, aus dem Be­richt des Vet­ters vor­zugs­wei­se der On­kel Schnöd­ler pur­zel­ten in sei­ner See­le durch­ein­an­der gleich den Tö­nen ei­nes Kla­viers, auf wel­chem eine Kin­der­hand Mu­sik macht, bis – ja, bis Mut­ter Na­tur end­lich Ruhe ge­bot und dem wil­des­ten Lärm die tiefs­te Stil­le, dem an­ge­streng­tes­ten Den­ken die völ­li­ge Be­wusst­lo­sig­keit folg­te.

      Es war hel­ler Tag, als der zum zwei­ten Mal aus der Frem­de heim­ge­kehr­te Sohn er­wach­te, und er hat­te man­cher­lei ver­schla­fen. Die Lei­che war aus dem Bet­te ge­ho­ben und in ei­ner Ne­ben­kam­mer auf ein an­de­res La­ger nie­der­ge­legt wor­den; es war wie­der ein Feu­er in dem er­kal­te­ten Ofen des Ster­be­ge­machs an­ge­zün­det, und un­ten in dem Fa­mi­li­en­zim­mer war­te­te das Früh­stück und emp­fing der Vet­ter Kon­do­lenz­be­su­che.

      Als der Schlä­fer has­tig em­por­fuhr und an das Fens­ter tau­mel­te, hielt ein Hand­wa­gen vor der Gar­ten­tür auf der Land­stra­ße, und der Meis­ter Schrei­ner mit sei­nen Ge­sel­len lud den Sarg ab, und die Magd des Hau­ses, mit ei­nem frisch ge­schlach­te­ten Hahn in der lin­ken Hand und dem Schür­zen­zip­fel vor dem rech­ten Auge, sah der trau­ri­gen Ar­beit schmerz­lich, je­doch nicht un­an­ge­nehm in­ter­es­siert zu. Be­stürzt wich Leon­hard zu­rück und blick­te schnell nach dem lee­ren Bett hin­über; mit bei­den Hän­den griff er nach der Stirn und starr­te von Wand zu Wand, von der De­cke zum Bo­den, von dem al­ten Kup­fer­stich, dem Op­fer Isaaks, auf das Por­trät des Groß­va­ters in Öl. Das war Bums­dorf, das war das el­ter­li­che Haus, das war die Kam­mer der El­tern!… Zit­ternd, in na­men­lo­ser Angst noch­mals zwei Schrit­te ge­gen das Fens­ter – der schwar­ze Schrein wur­de über des Hau­ses Schwel­le ge­ho­ben; – bei dem kla­ren Win­ter­him­mel, die Sa­che ver­hielt sich so, und es war das ver­nünf­tigs­te, die Trep­pe hin­un­ter­zu­stei­gen, um die alte Frau in ih­rer Wit­wen­schaft in ru­hi­ger Trau­er zu be­grü­ßen! Wie von ei­nem Fens­ter un­se­rer Er­zäh­lung tre­ten auch wir zu­rück; und gleich­wie recht gute Freun­de ihre Be­su­che aus­zu­set­zen pfle­gen, wenn Ver­drieß­lich­kei­ten über das Haus, in wel­chem sie aus und ein gin­gen, her­ein­bra­chen, so las­sen auch wir die un­er­quick­li­chen Tage, wel­che jetzt dem Haus Ha­ge­bu­cher zu­ge­mes­sen wur­den, vor­über­strei­chen, ohne uns – auf­zu­drän­gen. –

      Alle Was­ser wa­ren er­starrt vor dem kal­ten Hau­che aus Nor­den. Die Wäl­der und Tä­ler la­gen da, als ob nie­mals ein Ton in ih­nen er­k­lun­gen sei. Nun war die rech­te Zeit der Ein­sam­keit für die Kat­zen­müh­le ge­kom­men, die ja ver­steck­ter lag als sonst eine Men­schen­woh­nung weit um­her. Mit den an­de­ren Was­sern ver­stumm­te na­tür­lich auch das Rinn­sal des Ba­ches; auch das lei­ses­te Klin­gen der ver­ein­zel­ten Trop­fen aus der fer­nen Welt des Le­bens über dem zer­bro­che­nen Rade hat­te auf­ge­hört; Mut­ter und Sohn in der Müh­le wa­ren al­lein, und nie­mand stör­te sie, selbst Leon­hard Ha­ge­bu­cher nicht.

      Wir kom­men aus dem Hau­se des To­des, und der Tod ist eine erns­te Sa­che; aber er hin­der­te uns nicht, fes­ten Schrit­tes ein­her­zu­ge­hen und ver­ständ­lich, mit hel­ler Stim­me un­se­re Mei­nung zu sa­gen. Nun fürch­ten wir das Echo in den Wäl­dern zu er­we­cken – was ist das? Kann das Le­ben grö­ße­re Mys­te­ri­en ha­ben als der Tod?

      Hier war ein Wun­der; die Frau Klau­di­ne war ge­wach­sen! Um ei­nes Haup­tes Län­ge war sie hö­her ge­wor­den über Nacht. Sie hat­te bei­de Hän­de vor sich auf den Tisch ge­stützt und so sich lang­sam auf­ge­rich­tet. Mit großen, kla­ren, erns­ten Au­gen blick­te sie in ihr Ge­schick – – bis hier­her und nicht wei­ter!

      Sie hat­te in der Ein­sam­keit und Hoff­nung einen mäch­ti­gen Wil­len ge­won­nen. Sie fürch­te­te sich nicht; sie


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