Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
er grinsend und rückte etwas näher an mich heran. Meine Nackenhärchen und die Haare an meinen Armen richteten sich kerzengerade auf, heiße Schauer jagten mir den Rücken hinunter. Ich schluckte nervös und fragte mich, warum Chris eine solche körperliche Reaktion bei mir auslöste. Es behagte mir ganz und gar nicht.
„Mal im Ernst, Edda, was willst du machen? Politik? Wissenschaft? Wirtschaft?“
„Warum denkst du eigentlich, dass ich so etwas machen will?“, fragte ich. „Was sagt dir, dass ich nicht eher in eine künstlerische Richtung will ‒ Musik, Kunstgeschichte, kreatives Schreiben ...“
„Hm, tja“, Chris zuckte die Achseln, „so hätte ich dich eben nicht eingeschätzt. Aber ich kenn dich ja auch nicht richtig.“ Das stimmte allerdings, ich wunderte mich insgeheim, dass er überhaupt hier neben mir saß.
„Um ehrlich zu sein“, ich seufzte frustriert, „weiß ich noch nicht, wie’s mit mir weitergehen soll. Keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen soll. Kunst, Musik, Wirtschaft ... was weiß ich?“ Hilflos fuchtelte ich mit den Händen in der Luft herum. „Es gibt einfach so viele Möglichkeiten, weißt du, und ich bin mir einfach nicht sicher. Ich habe keine Lust, etwas anzufangen, das ich dann wieder abbreche, weil mir mitten im Semester aufgeht, dass es doch nicht das ist, was ich für den Rest meines Lebens tun will. Außerdem fehlt mir momentan echt die Motivation, Bewerbungen zu schreiben, geschweige denn mir Gedanken um den richtigen Beruf zu machen. Weißt du, dieses eine Jahr, das hinter mir liegt, war so wunderbar ungeordnet, spontan, aufregend, chaotisch ... Ich hatte Spaß, alles war möglich, nichts war festgefahren. Es war anders, es war neu, es war wie ... wie Urlaub vom Leben.“
Ich berichtete ihm von meinem Jahr, von Südafrika und Neuseeland, von Tayo und Jala, Philipp und Miriam und all den anderen, von den Erlebnissen dort und den Erfahrungen, die ich gesammelt hatte. Während ich erzählte, erlebte ich alles noch einmal und fühlte mich zum ersten Mal an diesem Tag beinahe glücklich. Als ich endete, schlich sich ein Lächeln auf Chris’ Gesicht.
„Was?“, wollte ich wissen.
„Na ja“, er sah mich direkt an, „das klingt, als hättest du echt viel Spaß gehabt.“
„Tja, das hatte ich auch“, stimmte ich zu. „Es war ein tolles Jahr, das mich sehr geprägt hat, ich glaube, ich habe mich weiterentwickelt. Aber weißt du, nun glaube ich, dass es an der Zeit ist, etwas zu bewegen. Ich meine, dafür sind wir doch alle hier, oder? Auf der Erde, meine ich. Dafür leben wir. Um etwas zu bewegen, zu ändern, die Welt ein Stückchen besser zu machen, indem wir ... keine Ahnung, Bedürftigen helfen, Unschuldige beschützen, gegen Krieg, Hungersnot und Unterdrückung kämpfen.“ Ich ballte die Fäuste und sah Chris mit blitzenden Augen an. „Ich meine, ich fühle mich so ... so ... verantwortlich, weißt du? Verantwortlich für die Zukunft, für die Menschen, für alles eigentlich. Ich meine, wenn man sich mal anschaut, was allein in diesem Monat schon wieder alles passiert ist ... schrecklich! In Jakarta ist eine Autobombe explodiert, hast du das gelesen? Zwölf Menschen sind dabei ums Leben gekommen, zwölf! Bei diesem Anschlag auf das UNO-Hauptquartier in Bagdad hat es auch Tote gegeben. Es gab einen weiteren Autobombenanschlag, bei dem der geistliche Führer der Schiiten im Irak getötet wurde. Ich meine, hast du dir mal überlegt, was das für Auswirkungen nach sich ziehen wird?“
Chris sah reichlich bedröppelt drein. „Ehrlich gesagt, Edda“, er räusperte sich und kratzte sich am Kinn, „hab ich das alles nicht so richtig verfolgt. Ich meine, klar hab ich davon gehört, es hat mich betroffen gemacht, aber was sollen wir als Normalbürger groß dagegen tun?“ Er hob in einer kapitulierenden Geste die Hände. „Wir haben erstens viel zu wenig Ahnung von dem, was da draußen abgeht, zweitens haben wir zu wenig Macht, um die entscheidenden Hebel in Bewegung zu setzen.“
„Und drittens?“, fragte ich bitter.
„Was, drittens?“, fragte er verständnislos.
Ich rollte mit den Augen. „Na, du hast erstens und zweitens gesagt, meistens gibt’s dann auch ein Drittens.“
„Bei mir nicht“, entgegnete Chris entschieden. „Nur diese zwei Dinge wollte ich sagen.“
„Ah ja“, ich hob eine Braue, „aber wenn jeder so denken würde, wäre die Welt längst im Chaos versunken. Ich meine, es gibt so viele Menschen, die sich einsetzen, demonstrieren, protestieren, verhandeln. Ich weiß nicht, irgendwas muss man doch tun können.“ Wie so oft, wenn ich darüber nachdachte, was in der Welt alles schieflief, konnte ich dem Bedürfnis nicht widerstehen, mir die Haare zu raufen. Da draußen herrschten Mord und Totschlag und ich machte mir schöne Stunden am Strand. Obwohl es völlig unsinnig war, sich deshalb Vorwürfe zu machen, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Weil ich herumsaß und nichts unternahm, während sich andere die Köpfe einschlugen und einander in die Luft sprengten. „Vielleicht sollte ich in die Politik gehen“, überlegte ich laut, „da hätte ich sicher einige Möglichkeiten, auf das Weltgeschehen Einfluss zu nehmen. Zumindest mehr als jetzt.“
„Edda“, unterbrach Chris meinen Gedankengang sanft und griff doch tatsächlich nach meiner Hand, woraufhin sämtliche Zukunftspläne von der Rettung der Welt weit in den Hintergrund rückten. Mein Herz raste, obwohl ich es nicht darum gebeten hatte, und auch mein Puls spielte völlig verrückt. Was war das nur, dass mein Körper so voller Begeisterung auf Chris reagierte? Wo ich ihn doch eigentlich gar nicht ausstehen konnte.
„Du hast ja recht mit allem, was du sagst, es ist schlimm, was passiert, man muss was dagegen unternehmen, man muss gegen viele Dinge was unternehmen. Aber wenn du alles auflistest, was zur Rettung der Welt getan werden müsste, sitzen wir in hundert Jahren noch hier. Ach was, das wird nicht mal reichen. Worauf ich hinauswill ist: Du bist noch so jung, Rotschopf. Verdammt, bist du überhaupt schon volljährig? Wie auch immer, du hast dein ganzes Leben vor dir, du kannst noch so viel tun, so viel erleben, du kannst die Welt durchaus retten, aber nicht gleich im Ganzen. Fang klein an. Kauf ’nem Obdachlosen ein Frühstück oder so, keine Ahnung ... Edda, was ich sagen will ist, dass du die Zeit jetzt, solange du jung bist, nutzen solltest, um Spaß zu haben und deinen Horizont zu erweitern. Du solltest dich ausprobieren, sehen, was es alles für Möglichkeiten gibt. Ich finde es total lächerlich, dass von uns erwartet wird, uns so jung schon für irgendeinen Beruf zu entscheiden, etwas, das wir unser Leben lang machen müssen. Wie sollen wir das bitte schön entscheiden? Wir kennen noch nichts von der Welt, stehen gerade mal am Anfang unseres Lebens, haben kaum die Schule hinter uns, schon will man uns in Arbeitskleider stecken, uns Steuern abknöpfen und uns schuften lassen. Ich sehe das gar nicht ein. Nein, du solltest reisen, Edda, Party machen, relaxen, Sex haben ...“
Bei seinen letzten Worten wurde ich puterrot und war ein weiteres Mal froh, dass es so dunkel war. Warum zum Teufel sprachen wir jetzt über Sex? War das Taktik oder Zufall? Du liebes Lieschen!
„Sag mal“, Chris klang ehrlich interessiert, „bist du immer noch mit diesem komischen Blonden zusammen?“
„Äh ... du meinst Timo?“, stotterte ich wenig eloquent und wusste nicht, wohin mit meinen Händen, die fahrig und desorientiert in der Luft herumwedelten.
„Ja, den meine ich“, bestätigte Chris, „oder gab es zwischenzeitlich mal ’nen anderen?“
„Nein, um Himmels willen, wofür hältst du mich? Nein, gab es nicht.“
„Also bist du noch mit ihm zusammen, ja?“
„Äh, ja. Das heißt, nein. Ich meine, ja ...“ Ich war völlig durcheinander, das Gespräch verlief in eine Richtung, die ich nicht vorhergesehen hatte. „Also, ich weiß nicht so genau, um ehrlich zu sein“, versuchte ich mein grenzdebiles Gestammel zu erklären. „Wir haben nicht so richtig Schluss gemacht, aber wir haben uns ein Jahr nicht mehr gesehen und ... keine Ahnung, ich schätze, wir sind so halb getrennt. Also, fast. So gut wie.“ Was faselte ich da nur für einen hirnverbrannten Stuss? Chris kam sich sicher vor, als würde er mit einer vollkommenen Idiotin reden.
Er betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. Überlegte er schon, ob er den Pfleger mit der Zwangsjacke rufen sollte? Himmel, war das alles peinlich.
„Soll