Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
versprach ich ihr und gab ihr meine Handynummer. Es geschah beinahe reflexartig, ich dachte gar nicht richtig darüber nach. In diesem Moment wollte ich einfach nur für sie da sein, ihr Trost spenden. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, sie niemals wiederzusehen. Ich hatte sie irgendwie gern, wenn auch nicht auf dieser leidenschaftlichen Ebene. Layla und Amanda, zu denen ich ebenfalls den Kontakt hielt, erzählten mir, dass, seit ich weg war, weniger Kundinnen kämen, dass ständig eine gedrückte Stimmung herrsche, Tanja permanent schlechte Laune hätte und die Einnahmen deutlich magerer ausfielen.
Weil mir das sehr leidtat, brachte ich Lukas, der nach wie vor untätig bei seiner Mutter zu Hause abhing, dazu, sich bei Tanja vorzustellen. Ich besorgte ihm den Termin bei ihr und pries ihn an, wie die Verkäufer auf einem türkischen Basar es mit ihrer Ware taten. Schließlich wurde Luke tatsächlich eingestellt und er war fast ebenso beliebt wie ich.
Außerdem verliebte er sich in Sophia und sie sich in ihn. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hatte, aber offenbar war sie über mich hinweg, denn Luke und Sophia waren ein Paar, und zwar schon seit nunmehr vier Monaten.
Ich war hin- und hergerissen zwischen Erleichterung, weil sie sich in jemand anderen verliebt hatte, und Sorge, Luke könnte es total verbocken. Er war in Liebesdingen nicht der Geschickteste, außerdem sprach er trotz seiner neuen Liebe noch auffallend oft von seiner Verflossenen Linda. Nun hatte er also wieder einen Schuss in den Ofen gelandet.
„Alter, was hast du jetzt wieder angestellt?“, fragte ich, während ich aus meinen Boxershorts schlüpfte. Auch wenn ich viel zu spät kommen und Edda mir wahrscheinlich den Kopf abreißen würde, ich musste duschen. Mein Körper war völlig klebrig und verschwitzt, ich roch nach Alkoholausdünstungen und fühlte mich eklig.
„Mein Gott, ich hab halt neulich in der Stadt meine Ex wiedergetroffen, und weil ich mich gefreut hab, sie zu sehen, hat sie gefragt, ob wir was trinken gehen wollen. Ich hab zugesagt, wir waren aus, es war ein netter Abend, aber zwischen uns ist nichts gelaufen, das musst du mir glauben, Chris. Jedenfalls hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass ich eigentlich mit Sophia verabredet gewesen wäre. Sie war ziemlich sauer, weil ich es vergessen hatte und sie eineinhalb Stunden lang vergeblich auf mich gewartet hat. Später hab ich auch noch gelogen und behauptet, ich wäre eingeschlafen und erst mitten in der Nacht wieder aufgewacht. Leider hat Linda mich zwei Tage später aufm Handy angerufen und Sophia ist rangegangen. So kam alles raus. Verdammter Mist, jetzt ist sie total sauer und will nichts mehr von mir wissen. Dabei ist zwischen Linda und mir nichts gelaufen, Chris, echt nicht!“
Ich knurrte leise. Er war so ein verdammter Idiot. Wie konnte man nur so blöd sein? „Schwör mir, dass du nichts mit deiner Ex hattest!“, forderte ich barsch und Luke schwor es mir hoch und heilig bei seinem Leben.
„Ich liebe Sophia, ich würde sie nie absichtlich verletzen, aber sie blockt total ab, ich komm nicht mehr an sie ran, Mann. Bitte, rede du mit ihr, du hast doch so einen guten Draht zu ihr. Mach ihr klar, dass sie mir verzeihen muss. Ich kann ohne sie nicht mehr leben.“
Jetzt klang er, als wäre er den Tränen nahe. Musste wirklich verzweifelt sein. Oder er war nicht so ganz auf dem Damm, der Gute. Schließlich war heute Montag, das Wochenende lag hinter ihm, vielleicht hatte er es mit dem Alk mal wieder ein bisschen übertrieben.
„Schon gut, Luke, flenn nicht rum, ich kümmere mich drum“, murrte ich und stieg schon mal in die Dusche. „Aber jetzt hab ich keine Zeit, Mann, ich bin gleich verabredet und eh schon zu spät dran.“
„Ja, klar“, er klang wie ein Depressiver, „deine Bettgeschichten sind natürlich wichtiger als meine Beziehung.“
Genervt verdrehte ich die Augen. „Luke, ich weiß gar nicht, warum ich die Suppe auslöffeln soll, die du dir eingebrockt hast“, sagte ich geladen. „Also entweder wartest du, bis ich meinen Kram erledigt habe, oder du bringst dein Leben selber in Ordnung, ich hab keine Zeit jetzt. Adios, amigo!“ Damit legte ich auf, stieg in die Dusche und zerrte ruppig den Duschvorhang zu, sodass die Stange herunterkrachte. Mit einem beherzten Satz nach hinten rettete ich mich, ansonsten hätte das Teil mich volle Kanne an der Stirn getroffen. Dafür knallte ich mit dem Hinterkopf gegen die harten Steinfliesen und fluchte laut. Es war wie verhext, alles lief schief. Ob das ein schlechtes Zeichen war? Ach Blödsinn, eigentlich glaubte ich gar nicht an so was.
Während ich mich in aller Eile abbrauste, mein raspelkurzes Haar wusch und dabei die heranwachsende Beule spüren konnte, ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich nicht wenigstens nach Eddas Handynummer gefragt hatte. So hätte ich sie anrufen und ihr Bescheid sagen können, dass ich mich verspäten würde. Nun hockte sie da mutterseelenallein in der Tapasbar und wartete auf mich, wahrscheinlich war sie mittlerweile stinksauer. Wäre sie Elena oder eines der anderen Mädchen gewesen, mit denen ich normalerweise ausging, hätte ich mir den Weg sparen können. Dann wäre längst irgendein Typ gekommen und hätte sie abgeschleppt. Aber der Rotschopf, der würde bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag unbeachtet dasitzen wie bestellt und nicht abgeholt, wenn ich nicht käme.
Mitleidig seifte ich mich ein, beeilte mich mit dem Einschäumen der Haare, obwohl mein Hinterkopf ziemlich wehtat, und fragte mich dabei, warum ich mich unbedingt mit ihr hatte treffen wollen. Was hatte mich nur geritten, so sehr darauf zu beharren, dass sie mit mir zu Mittag essen solle? Ich hätte die Zeit wirklich sinnvoller verbringen können, zum Beispiel im Bett mit Elena.
Aber irgendwas an ihr faszinierte mich, und zwar nicht nur ihre Augen. Sie hatte eine Ausstrahlung, die mich anzog, ich mochte ihr großes Mundwerk und ihre Schlagfertigkeit. Mir gefiel, dass sie nicht wie ein Karpfen den Mund auf- und zumachte und mich verträumt anhimmelte, sondern mit mir zankte und konterte. Außerdem war sie auf ihre eigene Weise schön, sie leuchtete von innen heraus. Als sie mir gestern von ihrem Jahr in Südafrika und Neuseeland erzählt hatte, hatte ich Respekt und Achtung empfunden. Sie war taff, die Kleine! Allein in die Welt hinaus, auf andere, fremde Kontinente, das traute sich nicht jeder.
Ich selbst war bisher nur in Europa gewesen, doch es reizte mich, auch die anderen Kontinente zu entdecken und zu erleben. Ich hoffte, dieses Ziel mit meinem Job als Model erreichen zu können. Wenn ich es bis nach oben schaffte, würde ich die ganze Welt sehen, und alle Welt würde mich kennen ‒ aus Fernsehen, Zeitschriften und dem Radio. Die Vorstellung, berühmt und bekannt zu sein, erregte mich, spornte mich an. Der Gedanke, dass mein Vater mich sah und vor Wut schäumte, weil ich es so weit gebracht hatte ohne ihn und sein Geld, verschaffte mir eine Befriedigung, wie nicht mal Sex es konnte. Und irgendwo in meinem Hinterstübchen dachte ich auch an meine Mutter ‒ was, wenn sie mich im Fernsehen sah oder ein Foto von mir in einer Zeitschrift entdeckte? Sie würde wissen, dass es mir gut ging, dass ich es zu etwas gebracht hatte, und vielleicht würde sie versuchen, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen.
Meine Mama und ich hatten früher ein sehr inniges Verhältnis gehabt, ich hatte sie abgöttisch geliebt und mir immer gewünscht, sie vor meinem Erzeuger beschützen zu können. Eines Abends hatte ich einen tränenverschmierten Abschiedsbrief unter meinem Kopfkissen gefunden, in dem meine Mutter sich dafür entschuldigte, mich verlassen zu haben. Sie schwor mir, dass sie mich liebte, immer lieben würde und mich irgendwann da rausholen würde. Sie gab mir ihr Wort.
Am Schluss schrieb sie: Tausend Küsse deine Mama.
Neun Jahre lang hatte ich vergebens darauf gewartet, dass sie kam und mich aus meiner Hölle befreite. Ich sehnte mich danach, ihre tausend Küsse auf meinen Wangen, meiner Stirn zu spüren, sie konnten vielleicht die Schmerzen lindern, die die Schläge meines Vaters mir zugefügt hatten. Er hatte mich immer häufiger ins Gesicht geschlagen, früher hatte er nur Körperteile genommen, die man unter Klamotten verstecken konnte ‒ Arme, Beine, Rücken, Bauch, Schultern. Er hatte nie fest genug zugeschlagen, dass ich ins Krankenhaus musste, und ich hatte immer neue Ausreden vor den Lehrern, meinen Freunden und Mitschülern erfunden, woher die Wunden in meinem Gesicht stammten.
Zwar wünschte ich mir nichts mehr, als meinen Vater loszuwerden, gleichzeitig hatte ich aber panische Angst davor, in ein Kinderheim gesteckt oder von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht zu werden.
Mein Vater hatte ein Talent dafür, Ängste zu schüren. „Denkst du ernsthaft,