DREI-HUNDERT-MEILEN TIGER Aufzeichnungen von LIN-CHI. Sokei-an Shigetsu Sasaki

DREI-HUNDERT-MEILEN TIGER Aufzeichnungen von LIN-CHI - Sokei-an Shigetsu Sasaki


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Die Zeit wird es regeln, ich brauche nicht zu drängeln. Wenn ihr danach strebt, werdet ihr zurückgestoßen; ihr könnt euch mit der Natur nicht verbinden. Ihr müsst die Zeit, den Ort und die Bedingungen wissen. Um Buddhismus nach Amerika (nach Deutschland) zu bringen, müssen wir die Zeit, den Ort und die Bedingungen abwarten.

      „Die Alten sagten: ‚Diejenigen, die Wege und Mittel ausdenken, um sich mit der Außenwelt zu befassen, sind störrische Idioten‘.“ Lin-chi sagt, dass wir versuchen, ein universales Gesetz außerhalb von uns zu finden; wir schauen nicht in unser Selbst. Die drei Körper sind ein Körper, aber der Mensch, der diesen Körper hat, sucht nach der Wahrheit draußen irgendwo. Er ist ein Idiot. Lin-chi sagt euch, nur innen zu suchen.

       „Wenn ihr jeden Umstand beherrscht, wo auch immer ihr steht, dort ist der wahre Boden und die Umstände können euch nicht ablenken. Selbst wenn ihr durch ein vergangenes Übel das Karma tragt, oder die fünf schändlichen Verbrechen begangen habt, sind diese selbst der Ozean der Erlösung.“

      SOKEI-AN SAGT:

      Vielleicht können wir uns einigen, dass Bewusstsein der beste Begriff ist, um das Eine auszudrücken, an das wir glauben. Der Westen gibt dem höchsten Wesen den Namen Gott. Bewusstsein ist in allem: im Mikrokosmos und im Weltall, im Wasser und im Feuer, in einem Hund oder einer Katze, einem Löwen oder einem Menschen, in der ganzen Existenz, empfindungsfähig und nicht empfindend. Das Bewusstsein der Empfindungslosen, nennen wir latent. Es wird manifestiert, wenn die Zeit kommt, aber bis dahin ist es verborgen. Es ist nicht notwendig, zu beweisen, dass wir durch einen Grund bewusst sind; wir wissen, dass wir es sind — Bewusstsein wird in allen Stufen der Entwicklung manifestiert. Auf jeder Stufe wird ihm ein Name gegeben, wie zum Beispiel Gemüse, Tier, Mensch, sogar „Gruppenseele“, aber alle sind nur ein Bewusstsein.

      Lin-chi hat dieses Bewusstsein „Roshi – Lehrer“ genannt. Im Zen beten wir diesen Lehrer in uns und hinter uns an. Wir können es nicht ausdrücken durch Begriffe wie Tief oder Hoch; ES ist, gehört uns nicht. Vom menschlichen Standpunkt aus, wie können wir es in irgendeiner Art ausdrücken, die nicht mit den fünf Sinnen verbunden ist? Der Lehrer des Lehrers, der Lehrer der die Kraft im Lehrer wirken lässt, obwohl er es nicht ist? Weil es kein er, du oder ich als getrennte Personen gibt. Wir sind zwischenindividuell; wir sind verbunden als du-und-ich. Wir nennen dies nicht Gott, und wir beten es nicht als Gott an. Wir verehren die Kraft, die in uns, von morgens bis abends, in jedem Wort, das wir sprechen, in jeder Handlung, die wir durchführen, erscheint. So vollziehen wir vierundzwanzig Stunden pro Tag unser religiöses Leben. Es gibt keine bestimmte Zeit für das Beten.

      Die fünf schändlichen Verbrechen, über die Lin-chi spricht, sind: entweihen oder töten einer Mutter oder einer voll ordinierten Nonne, einen Arhat töten, Elternmord, das Blut eines Buddhas vergießen und die Harmonie der Sangha, der buddhistischen Gemeinschaft zerstören. Er sagt, dass, auch wenn ihr das Karma böser Handlungen aus der Vergangenheit tragt und sogar das Karma der fünf schlimmsten Verbrechen, so birgt das in sich selbst den Ozean der Erlösung. Kurzum, ihr werdet nicht durch die Umgebung, durch die Verhältnisse eures Lebens bezwungen. Wenn ihr euren Körper beherrscht, könnt ihr im Winter Seidenhosen tragen, ohne die Kälte zu fühlen. Wenn ihr alle Wörter gemeistert habt, werden sie nur eine Bedeutung haben. Aber leider benutzt der Mensch nicht die Wörter, er wird eher von ihnen benutzt.

      Die wahre Einstellung ist ein Bewusstsein und eine Form, Farbe und Ton werden durch es bewirkt und nehmen die Form von Männern, Frauen und Kindern an. Aber diese „eine Seele“ ist von der menschlichen Seele verschieden, die von ihrer ursprünglichen Natur getrennt worden ist. Diese eine Seele oder der eine Körper sind allgegenwärtiges, allmächtiges Bewusstsein. Wir sind das, wenn wir uns beherrschen. Wenn wir nicht durch Form und Farbe getäuscht werden, sind wir der Einzige im Weltall. Es ist so klar. Es gibt nichts mehr darüber zu sagen, aber empfindende Wesen werden getäuscht und wandern durch sechs Welten. Wenn ihr versteht, was Bewusstsein ist, hören die Leiden der Vergangenheit auf. Denn dieses Bewusstsein ist nicht eures, aber es ist „inter-individuell“. Es gibt nur ein Wesen im Universum.

       „Heute kennen Übende das Dharma nicht. Sie sind Ziegen ähnlich, die sofort alles in ihre Münder nehmen, was mit ihrer Nase in Berührung kommt. Sie unterscheiden nicht zwischen Herr und Sklave, Gastgeber und Gast. Da ihre Motive, in den Weg einzutreten, falsch sind, gehen sie zu lärmenden Orten. Wir können sie nicht Welt-Entsager nennen. Nein! Sie sind die Weltlichen.“

      SOKEI-AN SAGT:

      Eines Tages kam der Drachenkönig aus dem Grund des Meeres, um dem Buddha einen riesigen blauen Steingong für Buddhas Jetavana Garten zu schenken. Der Buddha hat dafür einen Glockenturm gebaut. Seine Größe kann man sich vorstellen, wenn man sich bewusst macht, dass fünfhundert Mönche darunter Platz nehmen konnten, um Sutras zu rezitieren. Die Vibration der Glocke war so erstaunlich, dass, wenn Sutras darunter rezitiert wurden, sie zum Singen ertönte und Sutras zusammen mit den Mönchen rezitierte. Der Gong ist natürlich ein Symbol unseres Bewusstseins, unseres Körpers; so hat jeder Tempel eine große Glocke sowie größere und kleinere Klangschalen.

      In seinen natürlichen Bedingungen vibriert ein Gong klar; unter unnatürlichen Bedingungen wird das Vibrieren behindert. [Sokei-an bedeckt die Klangschale auf seinem Tisch mit seiner Hand und hat sie dann geschlagen.] Wenn unser Bewusstsein durch etwas zurückgehalten wird — falsches Denken, Aberglauben, oder durch bestimmte Umstände — ist es dasselbe, als würde das Vibrieren eines Gongs angehalten.

      Buddhismus ist sehr einfach. In der Meditation besteht unsere Praxis nur darin, herauszufinden, wie wir uns auf den natürlichen Boden des Geistes stellen, so wie eine Klangschale auf ihrem Kissen sitzt. Wir beobachten, wie der Geist in uns ganz natürlich funktioniert. Um das zu verstehen, müssen wir diesen Geist vorübergehend stillhalten, um herauszufinden, wie er funktioniert. Die erste Praxis in der Meditation ist, nicht an irgendetwas zu denken, nicht euren Geist mit Kraft zu zwingen sich zu bewegen. Dann werdet ihr sehen, wie euer Unterbewusstsein funktioniert. Indem ihr euren Geist für kurze Zeit stillhaltet, erlaubt ihr dem Unterbewussten, ins Bewusstsein zu gelangen. Ihr könnt noch nicht alle kleinen Bewegungen eures Geistes anhalten, weil diese zur Natur gehören, nicht euch; so könnt ihr den Weg der Bewegungen des Geistes beobachten. Als Nächstes beendet ihr eure Aufmerksamkeit, den Geist still zu halten und verstärkt die Bewegung eures Geistes. Ihr werdet erkennen, dass es kein Ego gibt, keinen Geist eines Menschen. Alles ist die Bewegung der Natur. Tragt das in euer tägliches Leben, beobachtend, wie ihr euch fühlt, wie ihr reagiert. Das ist die Art und Weise Buddhismus zu lernen. Es gibt nichts Anderes, was wir tun könnten. Es nützt nichts, zu meditieren, wenn wir nicht wissen, was wir tun. In der Meditation erfahren wir, wie unser Körper funktioniert und wie unser Geist funktioniert. Wir denken nicht über Bedeutungen oder den Sinn nach; Bedeutungen sind in Wörtern, aber nicht in uns. Welche Bedeutung auch immer ein Wort in euren Geist trägt, ist diese nicht dein Selbst. Alle Wörter haben nur eine Bedeutung. Ein Wort kann alle Bedeutungen vermitteln. Wie lautet dieses eine Wort? Es ist die gegenwärtige Situation unseres Geistes, so konzentrieren wir uns auf diese gegenwärtige Einstellung unseres Geistes und begrüßen die Wörter, die viele Bedeutungen in sich tragen. Dann sind alle Wörter und Bedeutungen gerade wie der Ton der Klangschale. Lasst sie erschallen, lässt euer Gehirn viele Wörter denken. Das Gehirn ist nicht ein Wort, nicht eine Bedeutung, so wie die Glocke kein Ton ist. Aber wenn der Geist nicht klar ist, enthält er nicht die eine Bedeutung.

      Wenn ihr die erstaunliche Arbeit des Geistes erkennen wollt, müsst ihr verstehen, dass sich eure gegenwärtige Geisteshaltung sofort eine Million Bedeutungen einfallen lassen kann. Wenn ihr die gegenwärtige Geisteshaltung eines Anderen seht, könnt ihr seine Gedanken lesen, aber nur, wenn die Geisteshaltung wie eine Glocke auf dem Kissen klar ist. Ihr müsst euren Geist in einem gesunden Zustand bewahren, wie ihr das mit eurem Körper tut; das immer wiederkehrende Anhaften macht ihn krank. Begebt euch für kurze Zeit jeden Tag in diese vollkommene Einstellung. Treibt euren Geist nicht von morgens bis abends im Kreis. Wenn euch jemand fragt, was Buddhismus ist, was die Praxis des Buddhismus ist, gibt es nur eine


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