Warrior & Peace. Stella A. Tack
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Dass Gefangene aus der Hölle verschwanden, war nichts Neues. Die Unterwelt war oftmals ein einziges blutiges Chaos, voller übernatürlicher Wesen, die weitaus Besseres zu tun hatten, als sich andauernd Anti-Aggressions-Vorträge anhören zu müssen. Oder Toiletten im Dienste des Allgemeinwohls zu schrubben. Mein Vater nahm es gelassen hin, da am Ende doch alle wieder in Abaddon landeten. Und dann durften sie die Toiletten der Trolle putzen.
»Wurden die Gefangenen gefunden?«
Sokrates schüttelte den Kopf und erstach ein paar Soldaten mit einer schnellen Drehung seines Daumens. »Stirrrbbbb! Was? Äh … nein, hat man nicht. Offiziell sind wir in Alarmbereitschaft. Auch die Ausgänge wurden dichtgemacht.«
»Was?« Erschrocken sah ich auf und bekam nur am Rande mit, dass meine Spielfigur von einem Haufen Soldaten abgeschlachtet wurde. »Wie komme ich dann wieder hier raus?« Ich hatte wirklich keine Lust, länger als unbedingt nötig in der Hölle festzusitzen. Einmal davon abgesehen, dass Aphrodite mir gehörig den Marsch blasen würde, wenn sie erfuhr, dass ich schon wieder den Arzttermin verpasst hatte.
»Tja … Pech, Kleines. Kein Ausgang, bis der Boss sein Okay gibt! Außerdem solltest du auch im Olymp sein und nicht hier.«
»Das ist nicht meine Schuld! Gladis hat mich auf dem Kieker. Offensichtlich wusste das Biest, dass ich hier unten festsitze, wenn sie mich einbuchten lässt!«
Der Stier lachte polternd und schlug mir auf den Rücken. Keuchend wich die Luft aus der Lunge.
»Spinnst du?«, japste ich. »Willst du mir den Rücken brechen?«
Der Minotaurus lachte wieder und tätschelte meinen Kopf. »Verzeih, Warrior, manchmal vergesse ich, wie mickrig du bist. Die Töchter der Aphrodite konnten noch nie viel aushalten. Ihr seid viel zu zerbrechlich.«
»Na, herzlichen Dank auch!«, murmelte ich. Leider hatte er damit nicht ganz unrecht. Meine Geschwister kreischten schon bei einem kleinen Schnitt im Finger oder bei Spinnen … oder muskelbepackten Männern. Eigentlich in allen Situationen, in denen man kreischen konnte. Interessanterweise war Aphrodite das genaue Gegenteil ihrer Töchter. Wenn man sie sah, nun, sie war unleugbar eine Göttin, die mehr Leute in den Tod gerissen hatte als die meisten anderen Götter zusammen. Ihre Liebe war gefährlich. Sie hatte viele Facetten, aber nur wenige davon waren wirklich romantisch.
Zwei
Ein Pieps und ich schlitz dir die Kehle auf
»So, es ist spät! Ich habe noch zu arbeiten!«, murrte Sokrates nach einigen Stunden, in denen wir verbissen Soldaten abgeschlachtet und Hurenhäuser geplündert hatten. Meine Augen brannten bereits und meine Daumen hatten vor etwa einer halben Stunde den Geist aufgegeben.
Zustimmend nickte ich und schaltete die Xbox aus. »Warum genau arbeitest du noch mal als Kerkermeister?«, fragte ich Sokrates missbilligend, der sich polternd erhob und ein brüllendes Gähnen ausstieß. Himmel! Ich konnte verstehen, warum die meisten Schiss vor ihm hatten. Diese Hauer konnten mir den Hals so was von mühelos durchbeißen. Grunzend kratzte er sich den haarigen Nacken und blickte auf mich herab. »Tja, lieber Menschen foltern als Steuerberater werden wie mein Vater«, gab er trocken zurück. »Komm jetzt! Wenn du schon nicht zurück nach London kannst, solltest du die Nacht zumindest hier unten verbringen. Suchen wir dir ein Taxi und verfrachten dich zu deinem Daddy. Ist ansonsten ein weiter Fußmarsch.«
Ich nickte, warf einen letzten Blick in das geheime Spielzimmer und spürte ein plötzliches Stechen von Wehmut in meiner Brust. So schrecklich die Unterwelt auch war, wie ungern ich auch hier war, so verbanden mich doch einige schöne Erinnerungen mit diesem Ort. Ein kleines Versteck in all dem Chaos, das mein Leben war. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, diesen Raum für lange Zeit nicht mehr zu sehen.
»Warrior, alles in Ordnung?« Die Stimme von Sokrates ließ mich aufsehen. Sein vertrautes haariges Gesicht weckte in mir den Impuls, die Arme auszubreiten und ihn fest an mich zu ziehen.
»Ich habe dich lieb, Sok«, murmelte ich. Sein Geruch nach Ruß, Schweiß und Blut kitzelte in meiner Nase.
Der Riese grunzte erstaunt. Seine ungeschlachten Gesichtszüge nahmen einen liebevollen Ausdruck an, als er mich ruppig an seine breite Brust drückte und über meine Kapuze strich. »Ich dich auch, meine kleine Missgeburt, aber jetzt hör auf mit dem Quatsch.«
Nickend drückte ich ihn ein letztes Mal an mich und ließ ihn ein wenig beschämt los. Himmel! Es war uns beiden peinlich! Sokrates’ Hals war ein wenig gerötet. Er wirkte unglaublich verlegen.
»Na dann, auf Los gehts los!«, schniefte ich ein letztes Mal und stieß die Tür mit einem dumpfen Knall auf. In stiller Eintracht gingen Sokrates und ich nebeneinander über den gefliesten Boden. Alles wirkte still und friedlich. Nur gelegentlich war das Stöhnen der Sträflinge zu hören, die versuchten, den Schimmel aus den Ecken zu kratzen. Irgendwo über uns rauschte eine Toilettenspülung, dicht gefolgt von dem Stöhnen gequälter Seelen, die die Abflussrohre hinabgespült wurden. Nach einer Weile bogen wir scharf nach links ab und standen unvermittelt vor einer Reihe metallischer Aufzüge. Die Rufknöpfe leuchteten giftgrün im schwachen Licht der LED-Lampen. Mit einem dicken, haarigen Finger drückte Sokrates einen von ihnen. Ein wenig befangen starrten wir auf das blinkende Licht, während sich der rechte Aufzug laut ächzend in Bewegung setzte. Als die stählerne Tür endlich aufschwang, lächelte ich Sokrates ein letztes Mal zu, obwohl er es wegen der Kapuze nicht sehen konnte, und tätschelte seinen gigantischen Bizeps. »Danke, Sok. Bis zum nächsten Mal!«
»Machs gut, Kleine«, knurrte er leise. Knarrend schlossen sich die Türen und ich starrte auf eine Reihe von etwa einhundert Knöpfen neben mir. Mit diesem Lift waren die Ebenen 1 bis 33 sowie 140 bis 266 zu erreichen. Augenblicklich befand ich mich im sogenannten Keller. Oder auch Downtown genannt. Ebene 266. Um eines der Taxis zu erreichen, musste ich nach Uptown, also zumindest auf Ebene 145 hinauf. Seufzend drückte ich den entsprechenden Knopf und lauschte der grässlichen Fahrstuhlmusik, die in Dauerschleife Highway to Hell abspulte. Aber es tat sich nichts. Stirnrunzelnd drückte ich erneut.
Dann ein drittes Mal.
Ich wartete.
Und wartete.
Highway to Hell dudelte noch immer schrill in meinen Ohren.
Genervt starrte ich den Knopf an und drückte ein viertes Mal drauf.
Immer noch nichts.
Verdammt!
So fest ich konnte, hämmerte ich jetzt dagegen, bis er plötzlich feuerrot aufleuchtete.
»Was?«, rief ich. Verwundert beäugte ich das störrische Ding, als plötzlich eine Luke an der Decke des Lifts aufgerissen wurde. Mein Blick schoss nach oben. Der Kopf einer alten Frau mit ellenlangen Nasenhaaren und blutunterlaufenen Augen starrte auf mich herab. Finster verzog die Alte ihre blassen Lippen, bis ich messerscharfe Zähne sehen konnte. Ihre Haut war grau, das Haar schlohweiß. Vor Schreck verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke.
»Egal, wie oft du drückst, du kommst nicht nach oben«, krächzte der Kopf missgelaunt und spuckte dabei in alle Richtungen. Verblüfft klappte mir der Mund auf.
»Was? Warum?«, fragte ich hustend. Gott! Ich hatte zwar gewusst, dass die Lifte mit Hexenkraft angetrieben wurden, jedoch nicht, dass diese wirklich darauf saßen! Mir war auch nicht bewusst, wie grauenhaft sie stanken.
Die Hexe schnaubte wütend und verdrehte ihre kalkweißen Augen. »Hast du die Meldung nicht gekriegt, Mädchen? Die Ebenen 145-266 wurden gesperrt.«
Verzweifelt kniff ich mir in die Nasenwurzel und atmete tief durch. Wie viel konnte denn noch schiefgehen? »Das heißt, ich muss drei Ebenen zu Fuß laufen?« Meine Stimme klang völlig fertig.
Die Hexe kicherte