Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
mehr ablenken zu lassen. Natürlich liebte er Linda. Aber seit sie Peter seinetwegen verlassen hatte in der Absicht, ihn zu heiraten, hatten sich seine Gefühle für sie geändert.
Ganz ähnlich erging es Linda. Sie presste ihre heiße Stirn gegen die kahle Wand. Das monotone Plätschern des Regens zerrte an ihren Nerven. Ihr Blick fiel auf das zerwühlte Bett. Und plötzlich schämte sie sich. Warum blieb sie immer wieder über Nacht bei Tonio? Sie hatte doch ein hübsches Appartement, in dem er sie jederzeit besuchen konnte. Doch seit sie vor drei Wochen Tonios Geliebte geworden war, hatte sie überhaupt keinen Stolz mehr. Damals hatte es auch geregnet. Lachend war sie zusammen mit Tonio die Treppe zu seinem Atelier hinaufgelaufen. Dann war sie gestolpert. Tonio hatte sie aufgefangen und an sich gezogen. Das war der Augenblick gewesen, der ihm ihre Liebe durch ihre Blicke verraten hatte. Stumm waren sie die Stufen weiter hinaufgestiegen. Als sie das Atelier erreicht hatten, war es um sie beide geschehen gewesen.
In gewisser Weise hatte Tonio recht, überlegte Linda. Sie war viel zu schwerfällig und auch viel zu ehrlich, um ein Liebesverhältnis vor ihrem Mann geheimhalten zu können. Sie war sich sogar noch edel vorgekommen, als sie Peter ihren Ehebruch gestanden und behauptet hatte, sie liebe Tonio so sehr, dass sie sich eine Zukunft ohne ihn nicht vorstellen könne.
Linda lachte unfroh auf. Wäre sie leichtsinniger, dann hätte sie Peter skrupellos betrogen. Er hätte es vermutlich nicht einmal bemerkt, weil er ihr restlos vertraut hatte. Auch war er ja nur selten daheim.
Zum erstenmal fragte sich Linda, ob ihre Liebe zu Tonio nicht aus einem Gefühl der Verlassenheit entstanden war. Sie hatte sich zweifellos von Peter vernachlässigt gefühlt. Tonio aber war immer dagewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Er war fast täglich zu ihnen in die Villa gekommen. Auch Nina hatte mit kindlicher Schwärmerei an »ihrem Onkel Tonio« gehangen.
Nun aber hatte das tägliche Beisammensein hier im Atelier den Nimbus, mit dem Linda Tonio umgeben hatte, schon ein wenig zerstört. Tonio war oft ungeduldig, manchmal sogar unhöflich. Auch sein krasser Egoismus war für sie enttäuschend. Früher hatte sie diese schlechten Charaktereigenschaften niemals an ihm bemerkt. Sie hatte ihn nur als liebe- und verständnisvollen Freund gekannt. Schlimm war auch, dass sie bereits nach diesen wenigen Wochen Vergleiche zwischen Peter und ihm anstellte. In ihrem Fall sollte sie das lieber bleiben lassen, sagte sie sich.
Aber es nutzte nichts. Peter hätte das nicht getan, dachte sie immer wieder, wenn Tonio sie wie ein dummes Mädchen behandelte und überhaupt keine Rücksicht auf sie nahm. Er ließ sie auch ohne weiteres am späten Abend allein nach Hause gehen, wenn sie bei ihm gewesen war. Dadurch hatte es sich wohl auch eingebürgert, dass sie, wenn es spät wurde, einfach bei ihm übernachtete.
Auf einmal hatte Linda das Zusammenleben mit Tonio satt. »Tonio Bertoldi«, flüsterte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Warum nennt er sich nicht Anton Berthold, wie er in Wirklichkeit heißt?«
Linda wusste, Tonio war der Ansicht, dass ein Künstler auch einen Namen haben müsse, der auffiel. Peter war da allerdings anderer Meinung. Er hatte einmal erklärt, ein wirklich großer Künstler sei bescheiden und halte sich lieber im Hintergrund. Tonio dagegen …
Ich stelle ja schon wieder Vergleiche an, dachte Linda und ging ins Atelier zurück. »Tonio, ich habe über alles, was du soeben gesagt hast, nachgedacht«, erklärte sie mit heftig klopfendem Herzen. »Ich verlasse dich.«
»Gut, gut«, erwiderte er und trat einen Schritt von der Staffelei zurück. Mit schiefgelegtem Kopf begutachtete er sein neuestes Werk. »Findest du nicht auch, dass ich mehr Wolken malen sollte?«, fragte er. »Weiße Wölkchen. Einen richtigen Föhnhimmel wie in meiner bayerischen Heimat. Oft denke ich an meine Kinderzeit. Damals lebte ich mit meinen Eltern auf einem Bauernhof. Mein Vater war Bauer. Aber das weißt du ja. Ich bin oft mitten in der blühenden Wiese gelegen und habe sehnsüchtig den Wolken nachgeblickt, die so leicht dahinflogen. Ich …«
»Tonio, ich verlasse dich«, fiel Linda ihm heftig ins Wort. »Und du sprichst von Wölkchen, die über den Himmel fliegen.«
»Du bist hoffnungslos unromantisch, Linda.« Er wandte sich um und sah sie böse an. »Ich brauche aber eine romantische Frau mit Gedanken, die der Wirklichkeit entfliehen, die mich täglich von neuem inspirieren.«
»Das habe ich erkannt, Tonio. Deshalb trenne ich mich ja auch von dir. Vielleicht verzeiht Peter mir. Er hat noch beim Abschied zu mir gesagt, dass er alles vergessen wolle, wenn ich bei ihm bleibe. Nur dich darf ich nicht wiedersehen. Damals hatte ich noch geglaubt, ich könnte nicht auf dich verzichten, ich könnte nicht ohne dich weiterleben. Nun weiß ich, dass es umgekehrt ist.«
»Bist du verrückt geworden?«, rief Tonio heftig. Er warf den Pinsel wie ein ungezogener Junge einfach auf den Boden, sodass die Farbe nach allen Seiten spritzte und auch Lindas Morgenrock befleckte.
»Du bist ein zerstörerisches Element!« Linda kannte sich nicht mehr vor Zorn. »Schau doch, was du angestellt hast!«
»Wie kann man sich über einen blöden Fetzen so aufregen?«
»Der Fetzen, wie du dich auszudrücken beliebst, kostet eine Menge Geld.«
»Geld ist unwichtig.«
»So, Geld ist unwichtig. Jetzt, wo du es mit Peters Hilfe geschafft hast, ist es plötzlich unwichtig.«
»Ich habe Peter jeden Cent zurückgezahlt. Ich schulde ihm keinen Heller mehr. Von mir aus geh! Ich will dich nicht mehr sehen.«
»Ich gehe auch.« Linda wollte ins Schlafzimmer zurücklaufen, als es kurz an der Wohnungstür läutete.
Tonio sah Linda an. »Wer kann das wohl sein? Die Post ist schon dagewesen. Vielleicht Paketpost. Mach doch mal auf.«
»Mach doch selbst auf. Ich reagiere nicht mehr auf einen so unhöflichen Ton. Peter sagt immer bitte und danke. Außerdem bin ich hier nicht zu Hause. Auch bin ich noch nicht angezogen.«
Wieder läutete es. Diesmal etwas länger. Trotzdem war herauszuhören, dass der Besucher draußen vor der Tür etwas ängstlich zu sein schien.
Tonio funkelte Linda böse an und verließ das Atelier. Die Zimmertür ließ er offenstehen. Unwillkürlich wich Linda hinter die Staffelei zurück, um nicht gesehen zu werden.
Tonio blickte Nina mit gemischten Gefühlen an. »Du?«, fragte er ratlos. Er liebte das kleine Mädchen sehr und wollte ihm deshalb auch nicht weh tun. »Bist du denn allein da?«
»Ja, Onkel Tonio. Weil ich doch so unglücklich bin. Mutti ist fortgegangen. Sie liebt uns nicht mehr.«
»Ich weiß, Nina. Du kannst jetzt nicht zu mir hereinkommen. Ich bringe dich aber mit dem Auto nach Hause.«
Linda lauschte mit steigender Erregung auf die geliebte Stimme ihres Kindes. Obwohl ihr klar war, dass das, was sie tat, völlig falsch war, lief sie zu Nina hin und rief: »Nina, mein Liebling!«
»Bist du wahnsinnig geworden?«, fuhr Tonio sie an.
Nina war wie erstarrt. Alles hätte sie erwartet, nur nicht, dass ihre Mutti bei Onkel Tonio war. Sie war schon alt genug, um zu erahnen, was es bedeutete, wenn eine Frau im Morgenrock am Vormittag bei einem Mann war. In der Schule hatten sie bereits über solche Dinge gesprochen.
»Dann liebst du Onkel Tonio?«, fragte Nina maßlos enttäuscht.
»Ja, mein Liebling, ich liebe ihn.«
Linda wollte Nina an sich ziehen, doch diese sträubte sich gegen die Umarmung. Aus tieftraurigen Augen sah sie Onkel Tonio an. »Dann hast du uns Mutti fortgenommen«, stellte sie fest. »Ich mag dich nicht mehr, Und dich auch nicht!«, rief sie bitter enttäuscht und riss die Wohnungstür wieder auf. Laut polterten ihre Füße über die Stufen.
Linda war wie versteinert. Endlich hatte sie ihre Starre überwunden. »Tonio, bitte, lauf Nina nach!«
»Ich denke gar nicht daran«, erwiderte er mit bebenden Nasenflügeln »Das alles ist deine Schuld! Ich hätte Nina nach Hause gebracht, ohne dass sie erfahren hätte, dass wir beide beisammen sind. Ich schäme mich vor dem Kind.«
»Darüber