Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
war.
Lautes Hupen hinter sich riss Lucy aus ihren Erinnerungen. Erschrocken stellte sie fest, dass die Verkehrsampel längst auf Grün geschaltet hatte und bereits wieder auf Gelb wechselte.
Kurz darauf suchte sie einen Parkplatz in der Nähe des Hotels Frankfurter Hof, in dem sie abgestiegen war. Ganz weh wurde ihr ums Herz, als sie das Vestibül betrat. Sie hatte davon geträumt, zusammen mit Tonio ins Hotel zurückzukehren. Aber Tonio hatte sie allem Anschein nach längst vergessen. Und sie hatte auch nicht vor, ihm nachzulaufen. Einmal hatte sie ihm aus den Staaten geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Das hätte ihr eigentlich zu denken geben müssen. Aber sie hatte sich vorgemacht, dass die Adresse falsch gewesen sei und er ihren Brief nicht erhalten habe. Doch jetzt hatte sie sich persönlich davon überzeugen können, dass die Adresse stimmte.
Lucy ließ sich den Zimmerschlüssel geben und fuhr mit dem Lift nach oben. Eigentlich hatte sie nichts mehr in Frankfurt verloren. Am besten wäre es, sie würde mit der nächsten Maschine nach Hause fliegen. Ihre Eltern würden sich freuen, sie so schnell wiederzusehen.
Als Lucy ihrer Mutter von Tonio erzählt hatte, war diese sehr skeptisch gewesen und hatte sie gebeten, sich nicht allzu große Hoffnungen auf den Kunstmaler zu machen. Daran musste Lucy jetzt denken. Ärgerlich wischte sie ihre Tränen fort. Wegen eines Mannes wie Tonio sollte sie keine einzige Träne vergießen, sagte sie sich. Das wäre nur unsinnige Kraftvergeudung.
Lucy begann zu packen. Aber plötzlich hörte sie damit wieder auf. Nein, sie wollte Frankfurt noch nicht verlassen. Sie würde noch ein paar Tage hierbleiben. Vielleicht würde sie Tonio durch Zufall begegnen, obwohl solche Zufälle selten waren.
Lucy packte wieder aus und zog sich um. Sie nahm sich vor, einen Stadtbummel zu machen und verließ das Hotel wieder.
Am Spätnachmittag fuhr sie in das Stadtviertel, in dem Tonio wohnte. Sehr langsam ging sie durch die Straße. Aber sie sah Tonio nicht. Enttäuscht kehrte sie ins Hotel zurück.
*
Dr. Peter Hille kam an diesem Tag kurz vor dem Abendessen nach Hause. Seine erste Frage galt Nina.
»Ich weiß nicht, was mit dem Kind los ist«, erwiderte Wally besorgt. »Nina ist am Vormittag bei dem Regen in den Garten gelaufen. Ich hatte es ihr erlaubt, weil sie gar so unglücklich war. Später habe ich sie dann im Garten gesucht, aber nicht gefunden. Schließlich erschien sie mit völlig verweintem Gesicht und ist seitdem unansprechbar. Auch hat sie zu Mittag keinen Bissen gegessen. Selbst die Nachmittagsschokolade hat sie abgelehnt. Irgendetwas muss geschehen sein.«
»Wo ist Nina jetzt?«
»In ihrem Zimmer.«
Peter lief nach oben und öffnete die Tür von Ninas Zimmer. Das kleine Mädchen lag bäuchlings auf dem Bett und schien zu schlafen.
Leise trat Peter ans Bett und strich Nina zärtlich über den Hinterkopf. Sofort drehte sie sich um und sah ihn aus dick verschwollenen Augen verzweifelt an. »Ach, Vati, endlich!«, rief sie und setzte sich auf. »Ich bin so unglücklich, so schrecklich unglücklich!«
»Mein Kleines, um Gottes willen, was ist denn nur geschehen? Ist es wegen Mutti?«
»Ja, Vati. Ich war bei Onkel Tonio. Ich habe geglaubt, er wisse, wo Mutti ist. Ich wollte doch zu ihr, wollte sie bitten, wieder zu uns nach Hause zu kommen. Onkel Tonio hat mir die Tür aufgemacht. Und dann habe ich Mutti gesehen. Sie hatte nur ihren Morgenmantel an und war furchtbar erschrocken über meinen Besuch. Jetzt weiß ich, wer der Mann ist, den Mutti lieber hat als uns beide. Es ist Onkel Tonio«, stellte sie betrübt fest.
»Nina, wie bist du nur in die Stadt gekommen?« Peter war erschüttert über diese Geschichte. Gerade das hatte er seiner kleinen Nina ersparen wollen.
»Ich habe Geld aus meinem Sparschwein genommen. Zuerst bin ich mit dem Bus gefahren und dann noch mit der Straßenbahn. Als Mutti mich umarmen wollte, bin ich einfach fortgelaufen, weil ich so böse auf sie bin. Und dann hat mich eine liebe Dame heimgebracht.«
»Was für eine Dame?«
»Sie hat gesagt, sie sei Amerikanerin. Ihren Namen habe ich aber vergessen. Aber sie hat mir den Namen gesagt.«
»Wo hast du sie denn kennengelernt? Auf der Straße?« Peter Hille war entsetzt. Während er sich um das Schicksal fremder Leute kümmerte und versuchte, ihnen zu helfen, befand sich Nina in Gefahr. Heutzutage wurden doch oft Kinder entführt. Außerdem war er Strafverteidiger. Wie leicht konnte es geschehen, dass man ihn mit Ninas Entführung unter Druck setzen wollte.
»In dem Haus, in dem Onkel Tonio wohnt. Weil ich doch so viel geweint habe. Als sie sagte, ich solle zu ihr in den Wagen einsteigen, habe ich sie mir zuerst noch einmal genau angeschaut. Weil ihr doch verboten habt, in ein fremdes Auto einzusteigen. Aber sie war so lieb zu mir. Und sie hat mich dann auch nach Hause gefahren.«
»Da hast du aber Glück gehabt. Nina, du musst mir noch einmal ganz fest versprechen, dass du nie wieder in ein fremdes Auto einsteigst.«
»Ja, Vati, das verspreche ich dir.« Sie sah ihn unsicher an. Dann begann sie wieder zu weinen.
Peter setzte sich aufs Bett und nahm sein Kind tröstend in die Arme. Dabei hätte er selbst des Trostes bedurft.
»Vati, du hast doch immer so wenig Zeit für mich«, sagte Nina später, als sie sich etwas beruhigt hatte.
»Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, mein Liebling.«
»Ich möchte so gern zurück nach Sophienlust. Ich kann in Wildmoos in die Schule gehen. Zusammen mit Vicky Langenbach. Sie geht noch in die Volksschule, während ihre ältere Schwester schon ins Gymnasium geht. Und Henrik geht auch in die Volksschule.«
»Du willst nach Sophienlust zurück? Aber das geht doch nicht. Das Kinderheim nimmt doch nur Ferienkinder auf.«
»Nein, Vati, jedes Kind, das traurig ist, darf in Sophienlust bleiben.«
»Ich will es mir überlegen, Nina«, erwiderte er nach langem Zögern. »Ohne dich wird es für mich noch einsamer hier sein.«
Nina sah ihn traurig an. »Aber wir sehen uns doch kaum. Morgens verlässt du ganz früh das Haus, und abends kommst du oft erst nach dem Abendessen heim. Dann liege ich meistens schon im Bett. Mutti war doch auch immer so traurig, weil sie so oft allein war. Das hat sie zu mir gesagt.«
Ja, ich habe Linda viel zu oft allein gelassen, dachte Peter niedergedrückt. Hätte ich mehr Zeit für sie gehabt, wäre das alles wahrscheinlich nicht geschehen. Trotzdem ist es sehr hässlich von ihr, dass sie mich mit Tonio, ausgerechnet mit dem Mann, dem ich mein volles Vertrauen geschenkt hatte, betrogen hat.
»Vati, nicht wahr, ich darf wieder nach Sophienlust? Du musst dir das bald überlegen, weil doch übermorgen schon die Schule anfängt. Heute ist Sonntag. Ja, Mutti hat auch mal gesagt, selbst am Sonntag ist Vati oft nicht daheim.«
»Manchmal muss ich auch am Sonntag arbeiten, Nina. Wenn am Montag ein wichtiger Termin ist, den ich zu spät erfahren habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich am Sonntag für die Verteidigung vorzubereiten.«
»Ich weiß das ja auch, Vati. Weißt du, in Sophienlust gibt es immer so viel zu lachen. Und ich möchte doch lachen, weil ich so schrecklich traurig bin.« Sie schluchzte leise auf.
»Gut, Nina, ich rufe gleich morgen vormittag Frau von Schoenecker an und frage sie, ob sie dich wieder aufnimmt.«
»Danke, lieber Vati.«
»So, mein Kleines, nun wasch dir das Gesicht und komm zum Abendessen herunter. Du musst unbedingt etwas essen.«
Obwohl Nina überhaupt keinen Hunger hatte, weil der Kummer ihr den Magen zuschnürte, nickte sie. Sie wollte ihrem Vati eine Freude bereiten.
*
Lucy Snyder hatte bereits am nächsten Tag genug von ihren Streifzügen durch Frankfurt. Auch hatte sie sich damit abgefunden, Tonio nie wiederzusehen. Doch zuvor wollte sie noch bei den Hilles anrufen, um sich nach dem Befinden der kleinen Nina zu erkundigen