Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
die Herbstsonne an diesem Tag wieder besonders gut meinte und die Aussicht bestand, dass es sehr warm wurde, nahm Lucy keine Jacke mit, als sie das Hotel verließ. Sie ging zu Fuß, denn sehr weit war es nicht bis zu Tonios Wohnung.
Als sie dann vor dem Haus stand, war es noch nicht einmal zehn. Aber das störte sie nicht. Fast wünschte sie sich, dass Linda Hille wieder bei Tonio war. Dann würde sie ihm einfach um den Hals fallen und ihn laut an ihre glücklichen Wochen in Paris erinnern.
Mit heftigem Herzklopfen betrat Lucy das dunkle Treppenhaus. Sehr langsam stieg sie die Stufen hinauf. Vor der Tür der Atelierwohnung blieb sie lauschend stehen. Doch sie hörte keine Stimmen.
Ob Tonio und seine Geliebte noch schliefen? Das allerdings wäre peinlich. Nein, im Gegenteil, das wäre noch günstiger, überlegte Lucy nach einem tiefen Atemzug und drückte auf die Klingel.
Tonio war allein. Linda und er hatten sich am Abend zuvor wie kleine Kinder gestritten und sich im Zorn voneinander getrennt. Als er versucht hatte, sie in ihrem Appartement telefonisch zu erreichen, hatte sie sich nicht gemeldet. Dass er darüber sogar unendlich erleichtert gewesen war, wollte er sich nicht eingestehen und auch nicht, dass seine Liebe zu ihr allmählich erlahmte.
So ist es immer, hatte er gedacht. Der Alltag tut einer großen Liebe nicht gut. Linda hat mich in vieler Beziehung enttäuscht. Ihr ewig trauriges Gesicht ging mir auf die Nerven.
Das dachte er auch, als es läutete. Für ihn stand fest, dass es Linda war. Er war deshalb nahe daran, sich einfach nicht zu rühren.
Wieder läutete es.
Missmutig legte er die Palette hin und stellte den Pinsel in das alte Einweckglas. Dann wischte er sich die Hände an dem Terpentinlappen ab und verließ das Atelier.
Noch einmal läutete es.
Nach einem unterdrückten Seufzer öffnete er. Fassungslos musterte er dann das reizende Gesicht der jungen rothaarigen Dame. »Du?«, fragte er leise. »Ich hatte …«
»Guten Tag, Tonio!«, rief Lucy fröhlich. »Du machst ein Gesicht, als würdest du mich nicht wiedererkennen. Mir scheint, du hast mich tatsächlich vergessen?«
»Vergessen? Nein, das habe ich nicht, Lucy.«
»Zumindest erinnerst du dich noch an meinen Namen. Darf ich hereinkommen? Oder hast du Damenbesuch?« Sie schnupperte. »Es riecht nicht nach Parfüm, dafür aber nach Terpentin.«
»Das sind meine Hände. Lucy, komm nur herein. Ich habe keinen Besuch.«
»Ausnahmsweise nicht, was?« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Kuss. Wie schwer es ihr fiel, die gleichgültige gute Freundin zu spielen, wusste nur sie. Das Wiedersehen mit ihm hatte sie zutiefst aufgewühlt. Mehr denn je war ihr bewusst, dass sie keine Minute aufgehört hatte, ihn zu lieben.
»Stimmt«, erwiderte Tonio in schönster Offenheit.
Darauf antwortete sie nicht, weil sie sich dann verraten hätte. Tonio sollte in ihr das fröhliche Mädchen sehen, das sie damals in Paris gewesen war. Sie kannte ihn schon gut genug, um zu wissen, dass Szenen ihm zuwider waren und dass sie ihn damit nur vor den Kopf stoßen würde.
»Genauso habe ich mir dein Atelier nach deinen Schilderungen vorgestellt, Tonio.«
Sie betrat das Atelier und blieb vor der Staffelei stehen.
»Die Landschaft gefällt mir ausgezeichnet. Aber sie ist ganz anders gemalt als die Bilder, die du in Paris ausgestellt hast. Ja, es ist ein ganz anderer Stil. Aber er gefällt mir. Trotzdem ist es kein echter Bertoldi.«
»Ich weiß, aber um weiterhin gut zu verdienen, muss man auch naturalistisch malen. Lucy, ich bin froh, dass du gekommen bist«, wechselte er das Thema. Er fasste sie bei den Händen. »Du bist noch hübscher geworden. Wenn das überhaupt möglich war.« Er wollte sie an sich ziehen und küssen, aber sie befreite sich lachend.
»Du hast recht«, gab er zu. »Ich habe kein Recht mehr auf dich.«
»Hast du eigentlich meinen Brief erhalten?«
»Deinen Brief habe ich erhalten. Aber ich habe darauf nicht geantwortet, weil ich dich nicht wiedersehen wollte.«
»Dann waren die Wochen in Paris für dich nur ein kleines Abenteuer?«, fragte sie und wich seinem Blick aus.
»Nein, Lucy, das war es nicht. Ganz bestimmt nicht. Die Wochen mit dir gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.«
»Tonio, ich halte es für besser, dieses etwas heikle Thema ad acta zu legen. Vermutlich bist du gebunden?«
»In gewisser Weise ja«, erwiderte er. »Wollen wir uns nicht setzen? Ich habe einen guten Rotwein da. Mir ist jetzt nach einem Schluck zumute. Und ich erinnere mich, dass du auch gern Rotwein getrunken hast.«
»Ja, das habe ich.« Lucy setzte sich auf die niedrige Couch. »Stört es dich, wenn ich rauche?«
»Was für eine Frage!« Er reichte ihr das Kästchen mit den Zigaretten. Dann gab er ihr Feuer. Dabei trafen sich ihre Blicke. »Wie habe ich dich nur vergessen können«, sagte er verwundert.
»Die Gegenwart war stärker. Warst du schon damals mit der Frau, die in deinem Leben eine so große Rolle spielt, befreundet, Tonio?«, fragte sie gespannt.
»Befreundet ja. Geliebt habe ich sie aber schon lange. Eigentlich seit Jahren. Aber es war immer eine unerfüllte Liebe, weil sie die Frau meines besten Freundes ist.«
»Ach, so ist das. Und als du mich kennenlerntest, da war … Ich meine, war sie da schon deine Geliebte?«
»Nein, Lucy, damals war sie es noch nicht. Erst nach meiner Rückkehr aus Paris hat es angefangen. Es ist merkwürdig, dass der Alltag der Liebe nicht guttut.«
»Soll das heißen, dass du sie nicht mehr liebst?«, fragte Lucy mit klopfendem Herzen und zog dann an ihrer Zigarette.
»Darauf kann ich dir nicht antworten, Lucy.«
»Tonio, ich will mich nicht aufdrängeln. Sag es mir nur, wenn ich gehen soll. Vielleicht erwartest du sie?«
»Es kann schon sein, dass Linda heute Vormittag kommt. Aber deshalb kannst du doch dableiben. Wir sind schließlich alte Freunde.«
»Das ist wahr.« Lucy verstand sich selbst nicht mehr. Tonio erzählte ihr in schönster Offenheit, dass er kaum an sie gedacht habe und eine andere Frau liebe. Am liebsten wäre sie gegangen, um ihn nie wiederzusehen. Denn je länger sie bei ihm blieb, desto mehr würde sie sich wieder in ihn verlieben. Dabei wollte sie ihm doch nur eine Lehre erteilen und durch Intrigen sein Verhältnis zu Linda zerstören. Vermutlich würde sie dabei aber selbst am meisten leiden müssen.
Tonio sah Lucy ununterbrochen an. Er studierte jede Linie ihres hübschen Gesichtes mit der kleinen geraden Nase und den Sommersprossen darauf. Sie sah jünger aus, als sie war.
»Warum musterst du mich so eingehend?«, fragte sie leise und hielt seinem Blick stand.
»Weil ich vergessen habe, wie schön du bist, Lucy. Wollen wir heute beisammenbleiben? Hier? Wenn es läutet, öffne ich nicht.«
Alles in ihr wehrte sich dagegen, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, weil sie sich nicht noch mehr vor ihm erniedrigen wollte. Aber dann dachte sie an Nina und Peter. Sie nickte.
»Lucy!« Er setzte sich neben sie und zog sie an sich.
Als er sie küsste, hatte sie das Gefühl, es habe sich seit Paris nichts zwischen ihnen geändert. Die glückliche Vertrautheit war wieder da.
Sehr viel später lag sie mit einem gelösten Ausdruck auf der Couch und beobachtete ihn. Tonio stand in der Kochnische und bereitete das Mittagessen zu.
Tonio hatte nichts davon wissen wollen, dass sie ihm half. Grinsend drehte er sich jetzt um. »Hoffentlich schmeckt es dir auch?«
»Ich habe einen mächtigen Hunger, Tonio. Außerdem liebe ich Rühreier. Und dein Wein ist wirklich ausgezeichnet.«
Lucy dachte