Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
die Koffer aus dem Auto holten und auf Ninas Zimmer trugen, ging Lucy neben der noch so jugendlich wirkenden Mutter von Nick durch die Halle zum Biedermeierzimmer.
Eine der Praktikantinnen, die in Sophienlust ihr Pflichtjahr absolvierten, brachte einen kleinen Imbiss und eisgekühlte Limonade, denn es war für die Jahreszeit viel zu warm.
Lucy war fasziniert von dem alten Herrenhaus. Sie sagte das auch Denise, die die junge Amerikanerin sehr sympathisch fand.
»Herr Dr. Hille hatte heute keine Zeit. Deshalb habe ich Nina hergebracht. Sie konnte es kaum erwarten, wieder hier zu sein. Nun verstehe ich das auch besser. Obwohl ich zum ersten Mal hier bin, fühle ich mich schon wie zu Hause«, gestand sie impulsiv. »Nina wird ihren Kummer hier ein wenig vergessen.«
»Ja, das wird sie ganz gewiss. Unsere Kinder, besonders die, die für immer bei uns sind, haben mitfühlende Herzen und viel Verständnis für das Leid eines anderen.«
»Das mit dem Papagei war eine reizende Idee.«
»Sie stammt von meinen beiden Söhnen Nick und Henrik und von Pünktchen. Das ist das sommersprossige Mädchen mit den goldblonden Haaren. Habakuk hat auf diese Weise schon öfters jemanden begrüßt.«
»Ich habe Nina vorhin zum ersten Mal lachen sehen.«
»Dann kennen Sie die Kleine noch nicht lange?«
»Nein, Frau von Schoenecker. Ich kenne sie erst zwei Tage.« Nur einige Sekunden zögerte Lucy. Dann erzählte sie Denise alles Wissenswerte.
Obwohl Lucy es nicht aussprach, erriet Denise, dass dieser Kunstmaler Tonio Bertoldi der Amerikanerin mehr bedeutete und sie wohl ebenso unter der Situation litt wie Nina und ihr Vater.
Lucy erwiderte Denises Blick mit einem dankbaren Lächeln. Dann erklärte sie: »Ich möchte Dr. Hille und Nina helfen. Das kann ich nur tun, wenn ich versuche, Tonio wieder für mich zu gewinnen. Bis zu diesem Augenblick erschien es mir unmöglich, einfach zu ihm zu gehen und zu sagen, hier bin ich. Wenn ich Nina und ihrem Vater nicht begegnet wäre, wäre ich gewiss schon daheim in Virginia. Aber das Schicksal hat mir wahrscheinlich noch eine Aufgabe zugeteilt. Jetzt, nachdem ich mit Ihnen über alles gesprochen habe, bin ich imstande, meinen Stolz zu überwinden und zu versuchen, Dr. Hilles Ehe zu retten.«
»Es wäre wunderbar, wenn Ihnen das gelingen würde, Fräulein Snyder«, erwiderte Denise ernst.
»Ich werde es versuchen. Aber nun würde ich mich gern noch von der kleinen Nina verabschieden und mir auch noch ihr Zimmer ansehen, damit ich ihrem Vater heute Abend mehr erzählen kann.«
»Dann gehen wir zu den Kindern.« Denise erhob sich schon.
Nina saß auf dem Bett in dem freundlichen Schlafzimmer und sah Pünktchen und Schwester Regine zu, die ihre Sachen einräumten.
Als Lucy und Tante Isi erschienen, stand sie auf und schmiegte sich für einen Augenblick an Denise. »Es ist wunderschön hier«, sagte sie mit einem dankbaren Lächeln. »Und morgen werde ich bestimmt nicht mehr ganz so traurig sein. Bleibst du bis morgen hier, Lucy?«, wandte sie sich an die Amerikanerin.
»Nein, Nina, ich möchte sofort fahren. Heute Abend sehe ich deinen Vati und erzähle ihm, wie hübsch dein Zimmer ist.«
»Und die Verbindungstür zu meinem Zimmer bleibt offen«, warf Pünktchen fröhlich ein. »Dann können Nina und ich uns am Abend noch ein Weilchen unterhalten.«
»Ja, das können wir.« Nina schluckte krampfhaft ihre Tränen herunter.
Lucy zog das Kind an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Auf baldiges Wiedersehen. Wenn es am nächsten Wochenende schön ist, werde ich versuchen, deinen Vati dazu zu bringen, mit mir nach Sophienlust zu fahren, um dich zu besuchen. Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Vielen Dank, nein«, erwiderte Nina leise. Ihre Mutti konnte Lucy ihr nicht mitbringen, und alles andere interessierte sie im Augenblick nicht.
*
Lucy überlegte auf der Rückfahrt, wie sie es anfangen sollte, Tonio und Ninas Mutter auseinanderzubringen. Sie kam sich dabei wie eine richtige Intrigantin vor. Als sie das Hotel erreichte, war sie fest entschlossen, am nächsten Tag zu Tonio zu fahren, um ihm Linda Hille auszuspannen.
Da Lucy noch viel Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Peter hatte, badete sie lange und legte sich noch ein wenig auf das breite französische Bett. Mit geschlossenen Augen überließ sie sich ihren Gedanken, die ihr um einen Tag vorauseilten. Sie sah sich bereits vor der Tür der Atelierwohnung stehen und läuten. Tonio öffnete ihr.
Doch weiter kam Lucy nicht in ihren Überlegungen, weil sie nicht wusste, ob Tonio sich über das Wiedersehen mit ihr freuen oder ärgern würde. War es möglich, dass er die gemeinsamen Wochen in Paris vergessen hatte und sich auch nicht mehr an sie erinnerte? Das allerdings konnte sie sich nur schwer vorstellen. Sie war doch ganz ansehnlich, ein Typ, wie man sagte. Zumindest hatte das Tonio in Paris oft behauptet. Aber Männer sagen vieles.
Vielleicht sollte ich ihn anrufen und auf meinen Besuch vorbereiten? fragte sie sich. Nein, das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie musste Tonio überraschen. Anders würde sie ihr Vorhaben nicht schaffen. Und wenn Ninas Mutter bei ihm sein sollte? Umso besser. Dann würde sie sogleich wissen, woran sie war. Dann würde es vermutlich zu einem Streit zwischen ihnen kommen, und damit genau das eintreten, was sie plante.
Lucy blickte auf die Uhr. Sie stellte fest, dass es nun höchste Zeit für sie war, sich anzukleiden. Für den lauen Septemberabend wählte sie ein buntes Wollgeorgettekleid mit kurzen Ärmeln und einem Hemdblusenkragen. Eine in der Farbe dazu passende Wolljacke legte sie sich über die Schultern, als sie das Zimmer verließ, um unten im Vestibül auf Peter zu warten.
Lange dauerte es nicht, bis er kam.
»Reizend sehen Sie aus«, stellte er nach der Begrüßung fest. »Ich möchte heute Abend mit Ihnen in ein slowakisches Lokal gehen, in dem man besonders gut speist. Auf Ihre Linie brauchen Sie ja nicht zu achten«, fügte er lächelnd hinzu. »Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?«
»Natürlich, Peter.« Sie erwiderte sein Lächeln und verließ mit ihm zusammen das Hotel.
Peter entgingen nicht die bewundernden Blicke der Männer in dem gemütlichen Lokal. »Eigentlich müsste ich rasend eifersüchtig sein«, meinte er.
»Auf mich?« Sie lachte leise auf. »Dazu müssten Sie mich lieben.«
»Das ist bei einem Mann nicht unbedingt nötig. Wenn er mit einer so hübschen Frau ausgeht, sieht er sie als sein Eigentum an und will sie ganz allein für sich haben.«
»Dann finden Sie mich hübsch?«, fragte sie mit kindlicher Offenheit.
»Hübsch? Was für eine Frage? Sie sind mehr als hübsch. Wäre ich Ihnen vor Jahren begegnet, hätten Sie mir gefährlich werden können.«
Ganz plötzlich war seine heitere Stimmung wieder verflogen. Lucy erkannte, wie sehr er noch immer seine Frau liebte. Ihr Entschluss, ihm und Nina zu helfen, stand nun endgültig fest.
Lucy und Peter verstanden sich in jeder Beziehung ausgezeichnet. Peter fand in Lucy eine Frau, der er sich rückhaltlos anvertrauen konnte. Als er sie gegen Mitternacht ins Hotel zurückbrachte, verabschiedete sie sich mit einem Kuss von ihm. »Ich danke Ihnen für die netten Stunden. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Sie mir auch, Lucy. Nicht wahr, Sie bleiben noch länger in Frankfurt?«
»Das werde ich. Besonders jetzt«, fügte sie mit einem rätselhaften Lächeln hinzu und ging ins Hotel.
Erst als Peter wieder allein war, überfiel ihn von neuem das Gefühl grenzenloser Verlassenheit.
*
Lucy erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh, obwohl sie spät zu Bett gegangen war. Der Gedanke an das Wiedersehen mit Tonio ließ sie nicht mehr schlafen. Darum stand sie auf und badete.
Sie wusste, dass Tonio sie gern in langen Hosen sah. In Paris war sie fast den ganzen Tag so herumgelaufen.