Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Nina in Sophienlust wieder aufzunehmen. Auch war sie der Meinung, dass das Kind in der Gesellschaft der vielen anderen Kinder schneller über seinen Kummer hinwegkommen würde.
Peter hatte mit einem tiefen Seufzer den Hörer auf die Gabel zurückgelegt. Ihm wäre es lieber gewesen, Frau von Schoenecker hätte es abgelehnt, Nina aufzunehmen. Denn nun würde er ganz allein sein, wenn er abends heimkam. Keine erfreulichen Aussichten.
Daran dachte er, als das Telefon läutete. Bei jedem Läuten des Telefons hoffte er, dass Linda am Apparat sein würde. Aber auch diesmal wurde er enttäuscht. »Lucy Snyder?«, wiederholte er fragend, nachdem diese ihren Namen genannt hatte.
»Ich habe gestern Nina nach Hause gebracht, weil sie so unglücklich war. Auch habe ich mir Sorge um sie gemacht.«
»Dann haben Sie meine Tochter heimgebracht? Das war lieb von Ihnen, Fräulein Snyder. Nina hatte Ihren Namen vergessen.«
»Dass sie ihn behalten hätte, wäre auch zu viel verlangt gewesen. Wie geht es ihr?«
»Ich habe heute Nachmittag einmal frei. Wollen Sie nicht zu uns kommen, um sich an Ort und Stelle von Ninas Befinden zu überzeugen?«, bat er impulsiv.
Lucy zögerte keine Sekunde. Sie nahm seine Einladung an. Auf diese Weise würde sie an diesem Nachmittag nicht mehr so allein sein. Denn vor morgen würde sie auf keinen Fall abfliegen können, wie man ihr in der Rezeption des Hotels mitgeteilt hatte.
Lucy freute sich wie ein kleines Mädchen auf das Wiedersehen mit Nina, als sie mit dem Leihwagen durch die Stadt fuhr. Den Weg hatte sie noch im Kopf. Darum dauerte es auch nicht lange, bis sie die Villa erreicht hatte.
Als sie läutete, kam kurz darauf Nina angelaufen. Sie trug lange rote Hosen und ein weißes Blüschen. »Wie nett, dass Sie uns besuchen«, sagte sie höflich. »Vati möchte sich noch einmal persönlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich nach Hause gebracht haben«, fügte sie mit ernstem Gesicht hinzu.
»Ich bin gern gekommen.« Lächelnd reichte Lucy dem Kind die Hand. »Wie geht es dir?«
»Ein bisschen besser. Morgen fahre ich nach Sophienlust. Das ist ein Kinderheim. Mutti hat uns ja verlassen, und Vati hat keine Zeit für mich. Deshalb wollte ich in das Kinderheim. Bleiben Sie noch lange in Frankfurt?«
»Ich will morgen nach Amerika zurückfliegen.« Lucy war überrascht. Der unkindliche Ernst in den großen braunen Kinderaugen und das altkluge Verhalten der Neunjährigen entging ihr nicht. Auch hatte sie kein Verständnis dafür, dass eine Frau eines Liebhabers wegen auf ihr Kind verzichtete. Als sie dann Dr. Peter Hille kennenlernte, war ihr das Verhalten seiner Frau erst recht ein Rätsel. Sie war der Ansicht, eine Frau, die mit einem solchen Mann verheiratet war, sollte sich glücklich schätzen. Er faszinierte nicht nur durch seine äußere Erscheinung, sondern auch charakterlich, wie sie sich bald überzeugen konnte.
Lucy entging nicht der traurige Ausdruck in seinen dunklen Augen. Sie wusste, im Grunde genommen war er ein Leidensgenosse von ihr. Aber das erwähnte sie selbstverständlich genauso wenig, wie er nicht von seiner Frau sprach.
Das Hausmädchen Wally servierte den Tee auf der Terrasse. Bald waren Lucy und Peter in ein Gespräch vertieft. Stumm saß Nina dabei und hörte ihnen zu. Plötzlich aber sagte sie: »Vati, vielleicht möchte Fräulein Snyder morgen mit nach Sophienlust fahren?«
»Nina, ich kann dich erst übermorgen hinbringen. Morgen habe ich kaum eine freie Minute.«
»Ach, Vati, übermorgen ist es doch schon zu spät. Ich meine, da hat doch die Schule schon angefangen.«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Dr. Hille, fahre ich Nina zu dem Kinderheim.«
Überrascht sah er sie an. »Aber Sie wollten doch morgen nach den Staaten zurückfliegen?«
»Ursprünglich hatte ich das auch vor. Aber ich habe es mir anders überlegt.«
»Ich wäre Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie Nina nach Sophienlust bringen würden. Sie nehmen mir damit eine große Last vom Herzen.«
Nina nickte. »Sie sehen, Fräulein Snyder, Vati hat nie Zeit für mich.« Sie schluckte ihre Tränen herunter.
»Wie wäre es denn, wenn du mich ganz einfach Lucy nennen würdest, Nina?«, schlug Lucy vor.
»Das möchte ich gern.«
»Also, dann auf gute Freundschaft.«
»Und ich würde mich freuen, wenn Sie morgen Abend für mich Zeit hätten.« Peter sah Lucy bittend an. Die fröhliche Aufgeschlossenheit der jungen Amerikanerin gefiel ihm und half ihm ein wenig über sein Leid hinweg. Ihr natürliches Wesen brachte ihn für eine Weile auf andere Gedanken.
»Gern, Herr Dr. Hille.« Lucy erwiderte seinen Blick mit einem Aufblitzen ihrer tiefblauen Augen. »Bei uns in Amerika ist es üblich, dass sich gute Freunde mit den Vornamen anreden. Bitte, nennen Sie mich einfach Lucy. Und ich nenne Sie Peter. Einverstanden?« Sie streckte ihm die Hand hin, die er mit einem warmen Druck umschloss. »Gut, Lucy, ich bin damit einverstanden.«
Peter war ein wenig überrascht über die Selbstsicherheit der Amerikanerin, denn er hatte im Laufe des nachmittäglichen Gesprächs erfahren, dass sie erst vierundzwanzig war.
Lucy blieb auch noch zum Abendessen. Als sie dann mit Nina nach oben ging, um sich ihr Zimmer anzusehen, fühlte sie sich bereits in der Villa daheim.
Nina zog sich aus und legte sich ins Bett. »Als Mutti noch da war, hat sie ...« Ihre Stimme brach. »Ach, Lucy, ich habe Mutti noch immer lieb. Aber ich will sie nicht mehr lieb haben, weil sie fortgegangen ist.«
»Vielleicht wird sie bald wiederkommen, Nina«, tröstete Lucy das weinende Kind.
»Ich bete jeden Abend zum lieben Gott und bitte ihn darum. Aber ich glaube nicht, dass der liebe Gott mein Gebet hört. Es gibt doch so viele Menschen, die seine Hilfe brauchen. Er hilft auch nur wenigen, weil er nicht überall hinhören kann. Das habe ich mir gestern Abend im Bett überlegt.« Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die tränennassen Augen.
»Vielleicht hört er dein Gebet doch, Nina.« Lucy küsste das Mädchen auf die Stirn.
»Ich mag Sie, Lucy«, sagte Nina mit einem traurigen Lächeln.
»Sag ruhig du zu mir.«
»Darf ich das wirklich?« Auf einmal lächelte Nina. »Es ist schön, dass du zu uns gekommen bist.« Impulsiv schlang sie die Arme um Lucys Nacken und gab ihr einen Kuss.
Lucy ging wieder nach unten. Peter wollte nichts davon wissen, dass sie schon gehen wollte. Und Lucy erklärte sich einverstanden, noch ein Weilchen bei ihm zu bleiben.
»Sicherlich wissen Sie schon Bescheid über meine Frau«, meinte er etwas später, als er den Wein eingeschenkt hatte.
»Ein bisschen, Peter. Ich wollte nämlich zu Tonio Bertoldi. Auf der Treppe bin ich dann Nina begegnet und habe von ihr erfahren, dass Tonio Besuch hat.« Ihre Mundwinkel zogen sich mit einem bitteren Lächeln nach unten.
»Ich glaube, wir sind Leidensgenossen. Jedenfalls habe ich den Eindruck«, erklärte er mit Galgenhumor.
»In gewisser Weise schon. Nur mit dem Unterschied, dass ich Tonio erst vier Wochen kannte, während es sich bei Ihnen um Ihre Frau handelt.«
»Ja, das ist wahr. Linda und ich sind zehn Jahre verheiratet. Ich habe sie mit siebzehn kennengelernt. Als sie achtzehn wurde, heirateten wir. Und als sie neunzehn war, kam Nina auf die Welt. Ich glaube, ich habe viel Schuld an allem. Darum habe ich auch mit der Einreichung der Scheidung gezögert. Aber vor vier Tagen habe ich mich dazu entschlossen.«
»Würden Sie denn Ihrer Frau nicht verzeihen?«
»Doch, das würde ich. Ich habe ihr sogar angeboten, alles zu vergessen, wenn sie zurückkommt. Aber sie liebt Tonio allem Anschein nach wirklich. Wäre es nur ein Rausch, würde ich alles versuchen, um sie zurückzuholen. Ja, das würde ich tun.« Er zündete sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette an. Erregt rauchte er.
»Dann