Der Meister und der Mörder. Margarete von Schwarzkopf

Der Meister und der Mörder - Margarete von Schwarzkopf


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frühen 16. Jahrhunderts gehabt hatte. Und dieses Bild war wirklich sehr beeindruckend.

      Das Gemälde aus dem Jahr 1470 zeigte eine stattliche Ansammlung von Menschen, Pferden, Hunden und Rehwild im nächtlichen Wald. Man hatte den Eindruck, dass diese ganze Gruppe von Tieren und Menschen gleich vom Wald verschluckt würde. In einer Episode der Fernsehserie »Lewis«, die in Oxford spielte, trug dieses Gemälde, wenn ich mich recht erinnerte, zur Lösung eines Mordfalles bei. Das hatte mich damals fasziniert. Und offensichtlich hatte Strate meinen Geschmack geteilt. Ich liebte dieses Bild, das ich vor wenigen Jahren, als der Brexit noch bloß eine Drohgebärde gewesen war, in Oxford gesehen hatte.

      Aber das half mir nicht weiter, auch wenn ich mich ein wenig wunderte, dass der alte Herr lieber ein Kunstwerk als eine menschliche Person im Silberrahmen haben wollte.

      Der Schreibtisch war alt, seine Beine standen ein wenig schief, die Seiten wiesen Kratzer und Rillen auf. Nachdenklich betrachtete ich dieses Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Fünf Schubladen, zwei an jeder Seite, eine in der Mitte. Vorsichtig versuchte ich die mittlere Schublade zu öffnen. Sie klemmte, war aber nicht abgeschlossen. Ich ruckelte an ihr, bis sie sich allmählich öffnete. Dabei fiel der Silberrahmen mit der nächtlichen Jagdszene um.

      In der Schublade lagen nur ein paar alte Rezepte und einige Visitenkarten. Nichts, was die Polizei interessiert hatte. Die Rezepte für ein Schmerzmittel und Magenpillen waren längst abgelaufen. Auch die fünf Visitenkarten wirkten vergilbt und verkrumpelt. Drei der Namen kannte ich: Cornelius Meyer-Herrmann, ein Kunsthistoriker und Berater einiger Berliner Museen, Otto Rieper, Besitzer der Berliner Galerie, in der Strates Vater Heinrich vor mehr als neunzig Jahren Bilder erworben hatte, und Alexander Freeling, ein renommierter englischer Kunstexperte, den ich persönlich kannte. Die beiden anderen Namen, Manfred Eggert und Friedl Neurath, sagten mir erst einmal nichts. Vielleicht aber würden mir diese Visitenkarten nützen. Aus einem Instinkt heraus steckte ich sie ein.

      Gerade wollte ich die Schublade wieder schließen, als mir in der hintersten Ecke des Faches ein braunes Kuvert auffiel, das aussah wie ein Teil des Schubladenbodens. Ich fischte es heraus. Darin lagen vier kleine Schlüssel. Sie gehörten eindeutig zu den anderen Schubladen. Ich wunderte mich, dass Schumanns Leute den Umschlag übersehen hatten. Mir konnte diese Oberflächlichkeit nur recht sein.

      Ich probierte die Schlüssel aus. Drei Schubladen ließen sich öffnen. Darin befanden sich ein paar Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, einige leere Plastikhüllen und ein paar Briefbögen samt Umschlägen. Bei der vierten Schublade allerdings stieß ich auf Schwierigkeiten. Der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Ich zog und zerrte, wackelte an der Schublade, versuchte sie mit einem der Kugelschreiber aufzustemmen.

      Draußen vor der Tür meldete sich Ernestine: »Sie müssen jetzt langsam mal in die Pötte kommen, Anna. Ich möchte das Haus abschließen. Morgen kommt die Polizei noch mal. Bitte beeilen Sie sich!«

      »Ja, gleich!« Ich wollte schon aufgeben. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass Strate die Dokumente in einer dermaßen klemmenden Schublade aufbewahrt haben sollte. Noch ein letztes Mal stocherte ich mit dem Kugelschreiber in der oberen Ritze herum, um die Schublade damit zu lockern.

      Auf einmal gab es einen lauten Knacks, und der Kugelschreiber brach in zwei Stücke. Aber er hatte einen winzigen Spalt geschaffen. Schnell nahm ich den nächsten Stift und bohrte ihn in die Spalte. Ganz behutsam wackelte ich an dem Holz. Und siehe da – die Schublade glitt ein Stückchen nach vorne, weit genug, um meine Hand hineinzuschieben und sie zu öffnen. Und da lag sie, eine Mappe aus rotem Plastik, auf der ein Etikett klebte. Mühsam entzifferte ich es. »Stuart O’Sullivan 1648 ff«, stand darauf, mit Tinte in einer mir unbekannten Schrift geschrieben. Ich zog die Mappe heraus. Strate hatte in dieser verklemmten Schublade ein gutes Versteck für die Dokumente gehabt. Er war ermordet worden, ehe er dazu gekommen war, sie mir zu schicken. Wie ich Strate kannte, hatte er vielleicht vergessen, dass er sie dort abgelegt hatte.

      In diesem Moment betrat Ernestine das Arbeitszimmer, obwohl sie mir gesagt hatte, sie würde nicht mehr hineingehen. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie.

      Ich verdeckte die Schublade mit meinem Oberkörper und schob sie möglichst unauffällig zu, was nicht einfach war. Das verzogene Holz machte es mir schwer, sie leise zuzudrücken. »Alles in Ordnung«, antwortete ich. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich kam mir wie eine Diebin vor. Doch Strate, so redete ich mir zu, hatte mir diese Dokumente ja sozusagen vermacht. Zu spät hatte er erkannt, dass sie wichtig waren und vielleicht den Schlüssel zu einem Geheimnis bargen.

      Ernestine ging wieder hinaus, und ich versteckte die Mappe unter meinem Pullover. »Haben Sie Erfolg gehabt?«, fragte sie.

      »Nein«, log ich. »In den Bücherschränken war nichts zu dem Thema. Ich habe mal in der mittleren Schublade nachgeschaut, aber da liegen nur uralte, längst verfallene Rezepte.« Die Visitenkarten erwähnte ich nicht.

      »Typisch Professor Strate«, entgegnete Ernestine lächelnd. »Immer neue Rezepte, die er dann doch fast nie eingelöst hat. Er war auch noch gut beieinander. Eine Hüftoperation stand demnächst an. Die muss ich nun absagen.« Sie sah mich einen Augenblick traurig an. »Vielleicht hat er Ihnen ja auch ein Bild vererbt. Der Notar wird nächsten Montag das Testament offiziell eröffnen.«

      Gerne hätte ich sie noch gefragt, welche zwei Stiche sie sich denn ausgesucht hatte. Aber ich ließ es bleiben.

      Als ich das Haus verließ, hatte sich die milde Morgensonne hinter einer dicken Wolke versteckt. Bisher war das Wetter in diesem Mai recht launisch, aber alles blühte prächtig. Ich ging zu meinem Auto, und jäh überkam mich der Zweifel, ob die rote Mappe wirklich die von Strate avisierten Dokumente enthielt. Gerade hatte ich die Autotür aufgeschlossen, als mein Handy klingelte. Bis vor einem Jahr erklang die Fanfare aus »Star Wars« als Klingelton, jetzt waren es eher zarte Celloklänge, die ich manchmal überhörte.

      »Anna?«, tönte es mir entgegen. Kaum verständlich, aber dann erkannte ich die Stimme.

      »Christine? Bist du es? Wo steckst du denn?«, rief ich.

      »Anna, ich brauche dich!« Christines Stimme überschlug sich. »Komm bitte schnell! Ich bin im Hotel Mercedes an der Messe. Ich habe Mist gebaut und jetzt furchtbare Angst! Bitte beeil dich.«

      Damit endete das Gespräch. Im ersten Moment wollte ich den Anruf nicht wirklich ernst nehmen. Christine hatte schon oft Mist gebaut, vor allem in ihrem Privatleben. Aber ihre Stimme hatte so panisch geklungen, dass ich doch zweifelte. Also fuhr ich in Richtung Hannover Messe. Die rote Mappe hatte ich achtlos auf den Beifahrersitz geworfen. Den Wagen, den ich im Rückspiegel hinter mir sah, ignorierte ich. Wer sollte mir schon folgen? Kurz vor der Abfahrt zum Hotel überholte er mich mit hoher Geschwindigkeit. Ich erhaschte einen Blick auf den Fahrer, dessen Gesicht von einer Tweedkappe überschattet war.

      Der Kampf mit dem Drachen

      Edinburgh, im Mai 1649

      Am liebsten würde ich die Ereignisse jenes Jahres 1648 aus meiner Erinnerung streichen. Denn alles, was wir befürchtet haben, ist eingetroffen. Aber ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, eine wahrheitsgetreue Chronik zu verfassen, und dazu zählen vor allem auch jene schicksalhaften Begebenheiten, die die Geschichte dieses Königreichs und der Familie Warchester betreffen.

      Steven Clarkes verächtliche Worte vor dem Bildnis des heiligen Georg verfolgten mich in jenen Tagen Anfang August 1648. Mein Misstrauen war erwacht. Ich machte mir Sorgen um die Bilder der Warchester-Sammlung. Falls Cromwells Truppen siegen und Warchester Castle einnehmen würden, dann würden sie die vielen Gemälde mit Heiligen und anderen frommen Szenen wie die Geburt Jesu oder die Anbetung durch die Könige entweder zerstören oder irgendwo hinbringen, wo sie kein wahres Puritanerherz erzürnen könnten. Ich sah vor meinem geistigen Auge schon Uccellos Werk zerschnitten oder in irgendeine dunkle Kammer verbannt. Den Biondo würden sie wahrscheinlich als harmlos und trivial erachten. Heitere Landschaften interessierten sie nicht, und sie würden ihn wahrscheinlich in irgendeinem düsteren Raum lagern, wo seine hellen Farben keinerlei irdische Emotionen wie Freude und Genuss weckten.

      Ich erinnere mich noch an jenen 8. August, den Tag,


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