Hart's Bay: Wo unser Herz sich entscheidet. E. P. Davies
Feierabend, aber genau genommen ging es nur um eine Stunde Arbeit, die sie verloren, und für jemanden mit Tims Erfahrung und Fähigkeiten war Finn bereit, die Regeln zu beugen.
»Hey.« Sobald er in Tims Geschirr geschlüpft war, kletterte Rain die Leiter hinauf, als wäre es nicht der Rede wert, und gesellte sich zu ihm aufs Dach. »Was kann ich tun?«
Keine blöden Kommentare oder schiefen Blicke. Finns Respekt für ihn nahm ein bisschen zu.
»Reich mir die Ziegel«, sagte er, während er sie Stück für Stück an ihren Platz legte. Schweigend arbeitend fanden sie viel schneller einen Rhythmus, als Finn erwartet hatte. Sie beendeten gerade die letzte Reihe, als ihnen die ersten Regentropfen ins Gesicht schlugen.
Ihm tat alles weh und er wollte nach Hause. Da das restliche Gebäude vor Wasser geschützt war, konnte er die Jungs endlich gehen lassen.
»Danke für deine Arbeit heute«, sagte Finn zu Rain. Seine Stimme kratzte, weil er so lange nicht gesprochen hatte. Den ganzen Tag über hatte er mehr beobachtet, als zu reden, um zu sehen, wie die Jungs miteinander arbeiteten. Während der vergangenen Stunde war ihm nicht danach gewesen, ein freundliches Gespräch zu beginnen, und es war ihm sicherer vorgekommen, einen Nachmittag lang einfach so zu tun, als wäre er ungesellig.
»Gern. Danke, dass du mich hier hoch gelassen hast.« Rain ging auf die Leiter zu und ließ Finn kopfschüttelnd zurück. Wer auch immer Rain mit einer Portion Demut gefüttert hatte, Finn wünschte, der Rest seiner Familie könnte ebenfalls einen Teller bekommen.
Vielleicht war diese Sache doch nicht so schlimm.
Nachdem sie die Baustelle für die Nacht abgeschlossen hatten, setzte Finn Justin am Hart Square ab. Vor dem Supermarkt zu halten, erinnerte ihn daran, dass er noch einkaufen musste.
»Ach Scheiße.« Finn konnte es nicht verschieben. Er hatte kein Brot mehr, um sich Sandwichs für das morgige Mittagessen zu machen. Wenigstens war er schon hier. Er musste nur einparken und seinen Hintern nach drinnen schleifen. Dennoch stöhnte er, als er sich aus dem Sitz schob und zum Laden ging.
Einen Einkaufskorb am Arm zu balancieren, fühlte sich merkwürdig angenehm an. Es half, nach einem langen Tag körperlicher Arbeit die Muskeln zu dehnen. Definitiv besser, als direkt nach Hause und ins Bett zu gehen – das hatte Finn in den frühen Tagen seiner Arbeitstätigkeit getan, nur um morgens steif wie ein Brett aufzuwachen.
Als er nach dem Brot griff, klingelte sein Handy. Also schob er den Korb auf den anderen Arm, warf das Brot hinein und meldete sich, ohne recht auf den Bildschirm zu schauen.
»Hey, hier ist Finn.«
»Hey!« Er hätte Dashs Stimme überall erkannt. Sein kleiner Bruder rief mindestens einmal in der Woche an, um sich zu unterhalten. Dash war der zweitälteste der vier Jungen, wenn auch nur um Minuten älter sein Zwilling, und vor Jahren nach Connecticut gezogen, um aufs College zu gehen. Unter anderem wollte er einen guten Job finden, ohne nach Portland pendeln zu müssen. Hart's Bay konnte das Dash nicht bieten – oder etwas anderes. Connecticut hatte ihm die Freiheit geschenkt, sich selbst neu zu erfinden.
»Hey, Dash. Was gibt's?«
»Da kommst du nie drauf.«
»Du läufst weg, um zum Zirkus zu gehen?« Finn ging zum Regal mit den Molkereiprodukten, um Milch zu holen. »Wurde auch Zeit, du Clown.«
»Arschloch.« Dash lachte. »Nein, ich denke darüber nach, nach Hause zu kommen.«
»Nach Hause?« Soweit er wusste, war Dash derzeit nicht im Urlaub oder so was. »Du meinst…«
»Nach Hart's Bay.«
»Du machst Witze«, sagte Finn. Dash hatte recht. Darauf wäre er nie gekommen. »Warum?«
»Roll nur nicht gleich den roten Teppich aus«, schnaubte Dash ein wenig pikiert.
»Nein, nein, es wäre schön, dich hier zu haben.« Finn wollte Dash nicht das Gefühl geben, dass er nicht zurückkommen konnte. Es war schließlich nicht so, als wäre die Stadt nur für einen Hart-Jungen groß genug. Und er hatte seine Brüder vermisst, seitdem sie fortgezogen waren. Es fühlte sich an, als wäre er der Letzte, der die Stellung hielt.
Dash lachte. »Nur ein Scherz, Mann. Ich werde dich nerven kommen, ob du willst oder nicht.«
»Wie in alten Zeiten.« Finn grinste. »Also, was bringt dich wieder her? Die Arbeit kann's nicht sein.« Dash arbeitete als Lehrer und soweit Finn wusste, gefiel ihm das.
»Connecticut fühlte sich einfach nicht mehr nach einem Zuhause an.«
War das ein versteckter Hinweis auf Dashs Liebesleben? Verhielten sich seine Freunde schäbig? Der vertraute Beschützerinstinkt stieg in Finn auf. Zu Schulzeiten hatte er auf all seine Brüder ein Auge gehalten. »Ja?«
»Es steht noch nicht ganz fest. Wie dem auch sei: Wie geht's dir?«
Finn hatte nicht viel zu berichten, aber er erzählte von seinem Tag, während er seinen Einkauf beendete. Insbesondere davon, dass Rain nun in seiner Crew arbeitete und sich ganz gelassen gab. Nur die Tatsache, dass ein gewisser sexy Kerl durch seine Gedanken gespukt war, ließ er aus.
»Hm. Du hast recht. Ich wette, Rain hat etwas vor. Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Dash, als Finn zur Kasse ging. Eine war derzeit leer, also ging er darauf zu.
»Mach ich. Ich muss jetzt bezahlen. Wir sprechen uns später, Mann.« Finn steckte sein Telefon ein und schüttelte den Kopf darüber, wie verrückt dieser Tag war.
Als sein Korb abgerechnet wurde, sah er auf – und erstarrte.
An der anderen Kasse stand eine Gruppe von fünf Männern in ihren Zwanzigern, die sich miteinander unterhielten. Er kannte sie nicht… bis auf einen. Einer, der unmöglich zu übersehen war, und der ebenfalls wie angefroren an seinem Platz stand und ihn anstarrte.
Jesse.
»Wir sollten uns Cheetos holen.« Ein peppiger Rothaariger grinste in die Runde und wippte auf den Zehen, während er am Ende der Kasse einen Einkaufswagen belud.
»Junge, du würdest dich von Cheetos ernähren, wenn wir dich lassen würden.« Ein Typ mit schwarzen Haaren und Fingernägeln verdrehte die Augen.
Benimm dich nicht eigenartig, sagte er sich und nickte Jesse kurz zu, dann unterbrach er den Blickkontakt, so ungern er es auch tat. Sein Herz legte plötzlich eigenartige Saltos hin und seine Gedanken, die sonst so ordentlich und geradlinig waren, flogen.
Jesse sah im grellen Licht des kleinen Supermarkts kein bisschen weniger hinreißend aus, während er dabei zusah, wie sich ein Einkaufswagen mit Lebensmitteln füllte und einer seiner Kumpel bezahlte.
»Das macht zehn fünfundsechzig«, sagte der Kassierer zu Finn. Wortlos zog er seine Kreditkarte durch den Schlitz. Als er wieder aufsah, waren Jesse und der Einkaufswagen bereits an der Tür.
Seine Freunde folgten ihm und sahen sich über die Schultern nach Finn um. Zwei von ihnen unterhielten sich flüsternd mit Jesse, versuchten, ihn zu bremsen, aber Jesse ging weiter, als stünde sein Hosenboden in Flammen.
Vermutlich hatte die ganze Welt mitbekommen, dass sie einander angestarrt hatten. So viel also dazu, gelassen zu bleiben. Finn errötete und steckte seine Karte ein, während er sich bemühte, nicht hinter Jesse herzuschauen. »Danke«, sagte er zum Kassierer und nahm seine Tasche. Er versuchte, bewusst langsam zur Tür zu gehen, um Jesse die Chance zu geben, sich zu entfernen.
Aber sie hatten mehr Lebensmittel umzuladen als er. Daher kam er in die Verlegenheit vorzugeben, es nicht zu bemerken, dass sich die vier anderen Männer um einen kleinen verkratzten Kombi neben seinem Truck drängten, während Jesse auf dem Fahrersitz saß. Sie alle schwiegen auffällig und sahen nicht in seine Richtung.
Als Finn aus der Parklücke stieß, wagte er einen Seitenblick und nickte Jesse erneut zu, der auf seinem Platz darauf wartete, dass sie abfahren konnten. Es machte ihn lächerlich glücklich, dass Jesse zurücknickte und ihm eine Andeutung des wunderschönen Lächelns